Monatelang stehen die beiden älteren Herren schon im Ring: Der 76-jährige ehemalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva fordert beim Präsidentschaftswahlkampf 2022 in Brasilien den Amtsinhaber Jair Messias Bolsonaro, 67, heraus. Der ehemalige Arbeiterführer Lula gibt sich optimistisch und locker, der ultrarechte Bolsonaro macht auf starken Macho. Schauplatz des Ringkampfs sind Facebook, Twitter, Tiktok und Instagram.
Im größten Land Südamerikas, in das Deutschland 24 mal passen würde, ist digitale Kommunikation besonders gefragt. Mehr als 150 Millionen Brasilianer nutzen soziale Medien täglich. 97 Millionen sind auf der chinesischen Plattform Tiktok aktiv und verbringen dort mehr Zeit als die meisten anderen Nationen. Damit liegt das Land unter den ersten fünf weltweit bei der Nutzung von Facebook, Instagram und Co. Folgerichtig halten Experten digitale Medien, Videos und vor allem Plattformen mit kurzen prägnanten Botschaften, wie Twitter und Tiktok in diesem nur 45 Tage dauernden Wahlkampf für entscheidend.
97 Millionen Brasilianner*innen nutzen Tiktok
Bolsonaro, der dieses Mal für die Liberale Partei PL antrat, hat seit Jahren an seiner digitalen Identität mit Konten bei allen wichtigen Plattformen gearbeitet. Sein Wahlerfolg 2018 wurde außer den verbreiteten Fake News auch der Arbeit des Wahlkampfstrategen zugeschrieben, der für Trumps Sieg in den USA verantwortlich gewesen war. Außerdem sorgte Sohn Carlos Bolsonaro für fulminante digitale Präsenz.
Lula hingegen nutzte nach Aussagen Vertrauter nicht einmal ein eigenes Handy und sagte noch vor wenigen Monaten beinahe trotzig, er wolle lieber „auf der Straße Wahlkampf machen, als nur in den sozialen Netzen“. Tatsächlich war er dort kaum aktiv – bis Berater*innen den Politik-Veteranen eines Besseren belehren: das als Teenie-Tummelplatz verachtete Tiktok verfüge über soziologische und politische Seiten und diene vielen Menschen als Quelle für Infos, die sie per Whatsapp weiterverbreiten. Am 20. Juni postet Lula sein erstes Video bei Tiktok. Und voilá: Mehr als eine Million Menschen haben es sich angesehen, wie seine Frau Janja bei einer Wahlveranstaltung den Jingle „Lula lá“ singt.
Verantwortlich für die digitale Kampagne war die 36-Jährige Brunna Rosa, die unter anderem auf den Austausch von Likes und Kommentaren mit Influencern setzte. So ist Lula digital ebenso mit Ex-Big-Brother-Teilnehmer*innen wie mit Anwält*innen befreundet – Hauptsache sie haben mehr als 10 Millionen Follower.
Brunna wurde unterstützt von einem Pressesprecher, einem Fotografen und einem zehnköpfigen Team aus Journalist*innen, Analytiker*innen und einem Anthropologen. Freiwillige Helfer waren unter anderem Lulas Ehefrau, die Soziologin Janja, die für einen Kontakt mit der 29-jährigen Rio-Funk-Sängerin Anitta sorgte. Der 38-jährige Abgeordnete und Influencer André Janones zieht viel Aufmerksamkeit auf sich, schießt aber mit seinen polemischen Einwürfen gelegentlich übers Ziel hinaus. Schließlich wollte Lula ein möglichst breites Publikum erreichen. Künstler*innen und Intellektuelle unterstützten den Kandidaten punktuell.
Der teuerste brasilianische Wahlkampf aller Zeiten
Lulas Arbeiterpartei PT hatte im vermutlich teuersten brasilianischen Wahlkampf aller Zeiten 88 Millionen Reais (RS) aus öffentlichen Wahlkampffonds für den ersten Wahlgang zur Verfügung (Anmerkung der Redaktion: Das entspricht etwa 17,23 Millionen Euro). Dazu gekommen sind Gelder aus privaten Spenden. Bis Ende August hatte Lula bereits mehr als 2 Millionen RS für digitale Werbung ausgegeben, vor allem für die Bewerbung von Videos auf seinem Youtube-Kanal. Die Filme werden mehr als 20 millionenmal angesehen, obwohl dem Kanal nur gut eine halbe Million Menschen folgen. Das sind zehnmal so viele Ansichten, wie Bolsonaro bei 3,8 Millionen Abonnent*innen erreicht. Der noch amtierende Amtsinhaber zählt zwar weiterhin auf allen sozialen Medien im Schnitt doppelt so viele Follower wie sein Herausforderer, doch dessen Anhänger zeigen sich engagierter. Gezielt lancieren Brunna Rosa und Team Botschaften für bestimmte Wählergruppen: junge Menschen, Frauen, Arbeiter*innen, Unternehmer*innen.
Von Null auf zwei Millionen Follower
Marco Ruediger, Direktor der Schule für Kommunikation, Medien und Information der Stiftung Getulio Varga, hat zwischen 28. Juli und 29. August im Auftrag der größten brasilianischen Tageszeitung “Folha de Sao Paulo” Reichweite und Engagement in den sozialen Netzen der Kandidaten untersucht. Fazit: Lula punktet vor allem mit Videos, die Erfolge seiner Regierungszeit aufzählen, sowie mit optimistischen Botschaften an das brasilianische Volk. Bolsonaro positioniert sich mit Angriffen auf die Linke und die Presse. „Beide Kandidaten arbeiten mit Emotionen, beide sind charismatisch, aber die Menschen sind die ständigen Aggressionen müde“, so Ruediger. So konnte Lula nach der ersten großen TV-Debatte Ende August 50 Prozent positive Reaktionen verzeichnen, während auf Bolsonaro nur halb so viele Menschen positiv reagierten.
Die Fans „liken“ Videos, in denen Lula lässig mit verspiegelter Brille in Pink auftritt oder in Badehose verliebt seine Frau Janja umarmt. Private Szenen beim Fitnesstraining wechseln mit Bildern von offiziellen Auftritten, wo Lula auch mal ein paar Tanzschritte wagt. Die Posts sind dynamisch geschnitten und mit populären Rhythmen bis zum Rio-Funk aus den Slums untermalt. Bis Ende August schafft es Lula bei Tiktok von Null auf mehr als zwei Millionen Follower.
Gesetzeswidrige Wahlwerbung wird untersagt
Ende September haben beide Kandidaten bei der vom Umfrageinstitut Quaest gemessenen „digitalen Beliebtheit“ Top-Werte erreicht: Bolsonaro zählt nach seinen Wahlauftritten während der Feiern an Brasiliens Unabhängigkeitstag, dem 7. September, mehr als 83 Punkte von 100. Anschließend wird ihm die Nutzung von Bildern des Events auf Betreiben von Lulas Wahlleitung verboten, auch andere Bilder, die den Präsidenten zeigen, wie er auf offiziellen Reisen etwa bei der Beerdigung der Queen oder auf der UNO-Vollversammlung gesetzeswidrig Wahlwerbung betreibt, darf er nicht mehr einsetzen.
Lula selbst erreicht 85 von 100 Punkten, nachdem er bei dem Megaevent Superlive Ende September in Sao Paulo gemeinsam mit Künstler*innen, Intellektuellen und Influencer*innen auftritt. Danach fordert Bolsonaros Wahlkampfleitung, die Wahlgerichtsbarkeit müsse nun auch den Gebrauch der Bilder der Superlive verbieten, da Lula dabei versuche, die Kultur für sich zu kolonisieren.
Von den Medien weniger beachtet, sind andere in rechtlichen Grauzonen angesiedelte Aktionen: Bolsonaro etwa hat über seine Anhänger unzählige Websites erstellt, die wie Nachrichten-Seiten aufgemacht sind, aber tatsächlich Fake News und Wahlwerbung enthalten. Verbreiten Kandidaten nachweislich Fake News, so können sie mit empfindlichen Strafen belegt werden. Finden die Falschmeldungen sich auf von Privatpersonen registrierten Seiten, fallen sie unter „Meinungsfreiheit“. Auch die von beiden Kandidaten genutzte Praxis, über Google Ads Keywords zu reservieren, bei deren Suche automatisch Wahlwerbungs-Videos angezeigt werden, ist in Brasilien legal.
Nach dem ersten Wahlgang liegt Lula vorne
Im ersten Wahlgang am 2. Oktober erreicht Lula mit mehr als 48 Prozent der Stimmen gegenüber 43 für Bolsonaro zwar die Mehrheit, aber nicht den Wahlsieg. Dafür hätte er 50 Prozent plus eine Stimme gebraucht. Noch in der Nacht meldet er sich mit heiserer Stimme auf Tiktok: bedankt sich bei seinen Wählern, fordert sie auf, weitere Stimmen für ihn einzuwerben und kündigt an: „Ab morgen sind wir wieder im Wahlkampf!“