Von Martina Kühne, Researcher beim Gottlieb Duttweiler Institut (GDI)
Keine Frage: Die Zukunft liegt in der Stadt, Urbanität wird als positiver Wert neu entdeckt. Schon heute lebt fast die Hälfte aller Menschen in Städten – rund 3,3 Milliarden. Bald werden es noch viel mehr: Drei Viertel der Menschheit sollen es im Jahr 2050 sein. Die Metropolen werden dereinst nicht nur grösser sein, sie werden auch anders aussehen und in allen Lebensbereichen –
Verkehr, Wohnen, Arbeit, Konsum – neue Konzepte aufweisen.
Klar, auch beim Einkaufen. Bloss: Wie genau? Wie wird unser Shoppingverhalten sein? Wohin fliessen die Kaufkraftströme? Welche Handelsformen setzen sich durch? Wer sind die Konsumenten von morgen? Eine Zeitreise ist angesagt. Und genau die hat das Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) unternommen. In der neuen Studie«City Centre Retail 2020» untersucht der Schweizer Thinktank, wie sich die Städte entwickeln werden – wobei der Fokus auf dem urbanen Detailhandel liegt: Denn das Zentrum gibt einer Stadt ihr charakteristisches Gesicht – unter massgeblicher Beteiligung des Einzelhandels. Er prägt nicht nur das Shopping-Angebot, sondern gestaltet das öffentliche Leben, die Kultur, die Atmosphäre und das Design der Stadt.
Sechs Thesen dokumentieren, wohin die Entwicklung geht:
These 1: Der traditionelle Stadtkern ist Vergangenheit, in Zukunft stehen mehrere Zentren nebeneinander. Die Städte wachsen schnell. Und die wenigsten Zuzüger finden im traditionellen Zentrum Platz. In der Folge breiten sich die Städte aus und formieren sich zu eigentlichen Stadtregionen, an deren Peripherie laufend neue Subzentren entstehen. Obwohl also mit der Expansion der Städte eine Zentralisierung einsetzt, sind die einzelnen Metropolen dezentral gestaltet. Dies schafft lebendige, moderne Quartiere. Die Stadt gewinnt insgesamt an Attraktivität, doch gleichzeitig erwächst der traditionellen Innenstadt eine starke Konkurrenz: Diverse Stadtteile werden in Zukunft um Konsumenten, Mieter, Besucher oder Investoren buhlen.
These 2: «Unstoring» ergänzt «Store Concepts». Um sich gegen die harte Konkurrenz zu behaupten, muss sich die Innenstadt erneuern. Sie muss sich inszenieren und den Besuchern vielfältige Erlebnisse bieten. Für den Detailhandel heisst das: Entscheidend sind nicht mehr die Ladenräumlichkeit und der klassische Verkauf, sondern der Erlebnis- und Erfahrungsgewinn der Kunden – und zwar vor, während und nach dem Kauf. Ladenlokale werden zu Orten, wo man lernen und experimentieren kann, wo man Menschen trifft, sich austauscht, wo man unterhalten wird und eine angenehme Zeit verbringt. Die Konsumenten erwarten überraschende Erlebnisse, Entertainment, neue Erfahrungen – letztlich also Authentizität.
These 3: «Social Shopping wird wichtiger als Lonely Shopping». In den Städten der Zukunft lösen sich die traditionellen Gemeinschaften weiter auf, Individualisierung und Anonymisierung verstärken sich, es gibt mehr Singles. Gleichzeitig wächst die Sehnsucht nach Nähe, Zugehörigkeit und Verbindlichkeit. Die Stadtzentren werden zu Orten, wo sich Menschen treffen und gemeinsam etwas unternehmen – beispielsweise einkaufen. Shopping wird zum Socializing.
These 4: Die Stadt wird zum Full-Service-Anbieter. Der Handel übernimmt Zusatzaufgaben. Einfach Produkte anzubieten, reicht nicht mehr. Es müssen aussergewöhnliche Produkte sein, und sie müssen mit einem aussergewöhnlichen Service in aussergewöhnlicher Umgebung präsentiert werden. Die völlige Ausrichtung auf den Kunden kann so weit führen, dass die Händler alle öffentlichen Funktionen und Dienstleistungen übernehmen: Sie werden zu eigentlichen Stadtstaaten. Wo der Städter einkauft, erledigt er auch seine Verpflichtungen und verbringt seine Freizeit. Der Einzelhandel wird so zu einem «Convenience-Provider» – zum konsequenten Full-Service-Anbieter.
These 5: Die grauen Städte werden grüner. Die Städte von morgen verändern nicht nur ihre Grösse und Struktur, sondern auch ihren Charakter. Entscheidend dafür ist der gesellschaftliche Wertewandel, der ökologische Kriterien stärker ins Bewusstsein rückt. Gefordert wird eine nachhaltige Entwicklung, die Verkehr und Umweltbelastung reduziert. Die Distanzen zwischen Wohnen, Arbeiten, Unterhaltung und Einkaufen werden kürzer. Damit verschwindet das im Industriezeitalter propagierte Trennen der Lebensbereiche, und das Angebot wird verdichtet. Je höher die räumliche Dichte, desto geringer der Energieverbrauch pro Stadtbewohner. Denn nicht nur die Wege der Menschen sind in Zukunft kürzer, sondern auch die Wege der Produkte. Das ökologische Bewusstsein und technologische Innovationen ermöglichen eine erstaunliche Entwicklung: Die Landwirtschaft kommt zurück in die Stadt, Selbstversorgung wird zu einem zentralen Thema.
These 6: Reale Stadträume verschmelzen mit virtuellen – öffentliche mit privaten. Wer eine Stadt erkunden will, wer shoppen oder Leute treffen möchte, muss nicht aus dem Haus gehen: Längst haben Städte ausgebaute Online-Auftritte. Dieser Trend geht weiter; insbesondere der Einzelhandel wird dabei zu einer Spielwiese für technische Innovationen. In Zukunft werden wir durch virtuelle Städte schlendern, in Online-Shops Produkte aus dem Regal nehmen, sie begutachten und kaufen. Reale Räume verschmelzen mit virtuellen, der ortsgebundene Handel mit dem elektronischen. Das eröffnet nicht nur neue Möglichkeiten im Verkauf, sondern auch beim Service und bei der Produktentwicklung: Die Retailer können ihre Kunden jederzeit erreichen und umgekehrt. Der Austausch von Informationen, Wünschen und Kritik ist schnell und unkompliziert. Öffentliche Räume verschmelzen mit privaten.
Wie gesagt, die Zukunft liegt in der Stadt. Der Detailhandel in den Stadtzentren profitiert von dieser Entwicklung. Doch er muss sich verändern: Er muss vielfältige Services und noch bessere Produkte anbieten und diese gekonnt an faszinierenden Orten präsentieren. Das bringt nicht nur die richtigen Kunden und steigert den Umsatz; es formt auch das Image der gesamten Stadt als «Social Hub». Schon heute wirken die Innenstädte wie grosse Shoppingcenter. Die Bedeutung der Einkaufsmöglichkeiten für die Identität der Stadt wird weiter zunehmen: Sie prägen massgeblich Lebensstil und Design. Die Stadt wird somit mehr auf den Handel angewiesen sein als der Handel auf die Stadt.
Will eine City sich im zunehmend härteren Standortwettkampf profilieren, muss sie sich selbst als Produkt denken und sich inszenieren – Attraktivität ist nicht einfach da; Attraktivität wird gemacht. Oder wie es das Top-Model Cindy Crawford auf den Punkt brachte: «Selbst ich sehe am Morgen nicht aus wie Cindy Crawford.»