Appell an CMOs: „Werdet mal wieder volksnah!“

Patrick Dohmen ist 1. Vorsitzender des Europäischen Kompetenzzentrums für Barrierefreiheit. Im Interview legt er den Finger in die Wunde und macht deutlich, woran es beim Thema Barrierefreiheit in Deutschland im Allgemeinen und speziell im Handel sowie im Marketing scheitert.
Eine Person mit Langstock verlässt einen Einkaufsladen.
Einkaufen mit Sehbehinderung: "Es muss ein komplettes Umdenken stattfinden." (© Getty Images)

Herr Dohmen, welche Schulnote würden Sie dem Einzelhandel in Deutschland im Fach Barrierefreiheit geben?

Eine Vier minus. Ich bin ja ein großzügiger Lehrer. Aber eigentlich müsste man sagen: Versetzung gefährdet!

Das ist ein hartes Urteil.

Das große Problem ist, dass der Einzelhandel noch nicht verstanden hat, dass die demografische Entwicklung so weitergehen wird wie in den vergangenen Jahren. Dementsprechend ist er in vielen Bereichen nicht vorbereitet auf Menschen mit Beeinträchtigung und deren Bedürfnissen – weder infrastrukturell noch in der Ausbildung der Mitarbeitenden. Hier gibt es laute Musik, dort zu enge Gänge oder eine zu wenig kontrastreiche Farbgestaltung. Es gibt so viele Kleinigkeiten, bei denen ich mich frage, wo die Planer*innen sind und welche Vorgaben die eigentlich haben? Was mich aber am meisten stört: Alle Beteiligten haben immer 1000 Ausreden, warum Barrierefreiheit nicht geht.

Nämlich?

Der zunehmende Onlinehandel, das Immobilienverhältnis („Wir sind ja nur die Mieter und der Eigentümer macht nichts.“) oder der Verweis auf Städte und Kommunen, die den ersten Schritt machen sollen. Und dann gibt es noch die, die einen ebenerdigen Eingang machen und dann einfach meinen, dass ihr Laden damit barrierefrei wäre.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Ein sehr großes Problem bei Barrierefreiheit ist eine verzerrte Wahrnehmung: Wie stellt sich der Deutsche einen Behinderten vor? Die Antwort lautet: 50 Jahre und Rollstuhl, fertig. Ich bin der festen Überzeugung, dass das meiste, was in Deutschland zum Thema Barrierefreiheit läuft, Alibi ist. Niemand hat in der Konsequenz verstanden, dass Barrierefreiheit ein gesamtgesellschaftliches Muss ist.

Warum ist das so?

Das erleben wir ja auch bei anderen Diskussionen wie um die Impflicht während Corona. Wenn du der Gesellschaft sagst „du kannst, aber du musst nicht“, dann passiert halt kaum etwas. Ich wünsche mir eine Pflicht zur Barrierefreiheit. Der Bund und die Länder verstecken sich immer dahinter, dass sie Barrierefreiheit in das Bundesgleichstellungsgesetz geschrieben haben. Ja, haben sie. Aber dabei handelt es sich ausschließlich um unverbindliche Empfehlungen und formaljuristisch ist nichts davon verpflichtend für die private Wirtschaft. Zudem muss man leider sagen, dass Deutschland gerade in der Infrastruktur in den vergangenen Jahren geschlafen hat. Da ist nichts investiert worden. Als Problem kommt hinzu, dass alle Barrierefreiheitsrichtlinien immer nur für Neubauten und nicht für Bestandsimmobilien gelten. Die Politik ist da viel zu zögerlich!

Der Handel ist also nicht alleinig schuld an der fehlenden Barrierefreiheit.

Nein natürlich nicht. Das soll hier auch keine Abrechnung mit dem Handel sein – nach dem Motto „denen zeige ich es jetzt mal“. Die Aufgabe Barrierefreiheit müssen wir vielmehr alle gemeinsam lösen. Barrierefreiheit ist wie gesagt ein gesamtgesellschaftliches Thema. Und seien wir mal ganz ehrlich: Wann interessiert uns das Thema? Erst dann, wenn wir entweder selbst betroffen sind oder jemand, der uns nahesteht.

Wie viel Umsatzpotenzial lässt der Einzelhandel liegen, wenn er sich nicht angemessen um barrierefreies Einkaufen kümmert?

Eine Menge, davon bin ich felsenfest überzeugt! Die barrierefreie Gestaltung eines Ladens macht derzeit ungefähr zehn bis zwölf Prozent des Umsatzes aus. Dieser Wert wird aufgrund der demografischen Entwicklung in zehn bis fünfzehn Jahren auf mindestens 30 bis 40 Prozent des Gesamtumsatzes steigen. Denn für viele Menschen mit Beeinträchtigung, und dazu zähle ich auch ältere Menschen, ist ein Einkauf das Highlight des Tages. Das spüren die Händler, die zum Beispiel Schulen für Kinder mit Beeinträchtigung direkt um die Ecke haben. Sobald sie bei ihrem Einkauf wohlfühlen, kommen sie immer wieder. Menschen mit Beeinträchtigung zählen zu den treuesten Kund*innen überhaupt.

Was könnten Einzelhändler*innen denn schon im Kleinen besser machen, um Menschen mit Behinderung gerecht zu werden?

Wenn der Einzelhandel sich darauf besinnen würde, dass Kund*innen das wichtigste Kapital sind, dann müsste er sich mehr auf die Menschen und ihre verschiedenen Bedürfnisse einlassen. Die Realität ist ja vielerorts, dass der Handel sich kaputtgespart hat und somit Personalmangel die Folge ist. Ich versuche meinen Auszubildenden am Berufskolleg deshalb immer wieder klarzumachen, dass sie sich für Menschen mit Beeinträchtigung Zeit nehmen müssen. Das ist das Allerwichtigste.

Sind Investitionen in Mitarbeitende demnach wichtiger als Investitionen in technische Hilfsmittel wie beispielsweise Lupen am Einkaufswagen?

Jede Maßnahme, die im Sinne der Barrierefreiheit auch nur im Kleinen eine Verbesserung herbeiführt, ist eine gute Maßnahme. Aber geschultes, geduldiges und empathisches Personal ist die halbe Miete. Ich bin da auch kein Fantast oder Fanatiker, was das betrifft. Denn wenn man vom Handel fordern würde, für jedwede Form von Beeinträchtigung eine Lösung zu haben, dann würde man ihm auch Unrecht tun. Das ist übrigens ein Grund, warum ich so sauer auf die Behindertenverbände bin.

Wie meinen Sie das?

Behindertenverbände haben uns sogar schon vorgeworfen, dass wir von Eukoba bei unseren Zertifizierungen von beispielsweise barrierefreien Gebäuden zu wirtschaftsnahe wären. Aber das ist Quatsch. Wir können nur einfach nicht immer 150 Prozent fordern, das hilft doch beiden Seiten nicht. Manchmal sind 90 Prozent eben mehr. Salopp formuliert: Es gibt in Deutschland 16 Behindertenverbände mit 17 Meinungen. Das heißt: Wir haben hierzulande keine Behindertenlobby. Da fehlen auch das Netzwerk und das Marketing in eigener Sache. Denn auch die Behindertenverbände haben teilweise den Kontakt zur Basis verloren.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Im Behindertengleichstellungsgesetz gibt es Formulierungen wie, dass Menschen mit Beeinträchtigung „grundsätzlich ohne fremde Hilfe“ in einen Laden gehen können müssen. Da krallen sich die Behindertenverbände dran fest und sagen: Entweder komme ich da selbstständig und ohne fremde Hilfe in den Laden rein oder er ist nicht barrierefrei. Laut Behindertenverbänden dürfte in solchen Immobilien überhaupt kein Laden drin sein. Wir sagen dagegen: Es kann aber ja sein, dass eine Stufe im Eingangsbereich denkmalgeschützt ist. Oder der Vermieter bauliche Anpassungen verbietet. Wenn also ein Laden optional eine Klingel bietet, die Menschen mit Beeinträchtigung nutzen können, um Personal zur Hilfe zu holen, dann taugt das doch als barrierefreie Lösung.

In Ihrem „Lernladen“ am Aachener Berufskolleg für Wirtschaft und Verwaltung schulen Sie Auszubildende für den Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung. Zu Simulationszwecken werden etwa elektrisch aufgeladene Handschuhe, Grauer-Star-Brillen oder Nietengurte am Rücken eingesetzt. „Sensibilisierung durch Selbsterfahrung“ lautet das Credo. Wie ist die Resonanz?

Von der Öffnung im Jahr 2016 bis Ende 2019, also bis vor Corona, haben rund 5000 Schüler*innen von über 20 Berufskollegs an den Sensibilisierungsmaßnahmen im Lernladen teilgenommen. Wir bekommen von den Auszubildenden und den Berufskollegs nur positives Feedback – alle sind total dankbar, dass es unseren Lernladen gibt. Aber von den Unternehmen selbst kommt gar keine Rückmeldung. Da muss man sich fragen: Haben sie es nicht kapiert?

Haben Sie die Hoffnung, dass sich in den kommenden Jahren beim Thema Barrierefreiheit etwas zum Positiven wendet?

Jede*r Auszubildende, bei der/dem es im Kopf Klick gemacht hat, stimmt mich positiv. Aber gesamtgesellschaftlich sehe ich aktuell eher ein düsteres Bild. Das ist durch bestimmte egoistische Verhaltensweisen während der Corona-Pandemie auch nicht unbedingt besser geworden. Ich frage mich ernsthaft, ob wir überhaupt mal dahinkommen werden, Empathie und Inklusion echt und ehrlich zu leben. Aktuell glaube ich das eher nicht. Barrierefreiheit ist eine Generationenaufgabe. Das werden wir nicht mehr schaffen und unsere Kinder auch nicht. Aber wir müssen uns jetzt auf den Weg machen. Es muss ein komplettes Umdenken stattfinden, neue Konzepte müssen her. Und das ist Aufgabe von Marketingchefverantwortlichen.

Was erwarten Sie von Marketingentscheider*innen deutscher Handelsunternehmen?

Dass sie Kund*innen nicht nur mit möglichst wenig Aufwand viel Geld aus der Tasche zaubern wollen. Sondern dass sie Konzepte entwickeln, die eine Grundversorgung sicherstellen, Einkaufen zu einem Erlebnis machen und gleichzeitig alle Menschen und ihre Bedürfnisse berücksichtigen. Vielleicht sollten sich Marketingentscheider*innen auch einfach mal mit Institutionen wie unserer in Verbindung setzen und selbst beispielsweise durch die Schulung in unserem Lernladen gehen. In meiner Wahrnehmung ist Marketing zu einem riesigen Geschäft geworden, dass so vollgepumpt mit Anglizismen ist, dass man glaubt, dass die Unternehmen und ihre Verantwortlichen von einem anderen Stern kommen. Mein Appell an dieser Stelle: Kommen Sie einfach mal ein paar Stufen herunter zurück auf den Boden der Tatsachen und spüren Sie, welche Bedürfnisse zum Beispiel Menschen mit Beeinträchtigung wirklich haben. Liebe Leute, werdet mal wieder volksnah. Begriffe wie Customer Journey und Customer Centricity helfen doch in der Praxis niemandem weiter, wenn die Realität im Laden ganz anders aussieht.

Patrick Dohmen
© Privat

Patrick Dohmen ist erster Vorsitzender des Europäischen Kompetenzzentrums für Barrierefreiheit (Eukoba).Der gemeinnützige Verein mit Sitz in Linnich setzt sich seit 2003 für die Gestaltung barrierefreier Sozialräume ein. Kernkompetenzen sind nach eigenen Angaben die Prüfung von Barrierefreiheit, die Beratung von Unternehmen und Institutionen sowie Schulungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen. Derzeit sind rund 140 Ehrenamtler*innen für Eukoba tätig. Seit 2006 ist der Verein Träger und Verleiher des technischen Regelwerks Eurecert (EU-GS 904), ein Gütesiegel für Barrierefreiheit für Objekte, Produkte, Personen und Dienstleistungen.

(he, Jahrgang 1987) – Waschechter Insulaner, seit 2007 Wahl-Hamburger. Studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften und pendelte zehn Jahre als Redakteur zwischen Formel-1-Rennstrecke und Vierschanzentournee. Passion: Sportbusiness. Mit nachhaltiger Leidenschaft rund um die Kreislaufwirtschaft und ohne Scheuklappen: Print, live, digital.