Von Höhlenmalereien über Epen und Romane bis hin zu TikTok: Seit es Menschen gibt, erzählen sie Geschichten. Doch heute stellen die immer neuen Entwicklungen im Storytelling manche Mitarbeiter*innen vor Herausforderungen, speziell die älteren. Reels? Threads? Shorts? Was für viele von ihnen böhmische Dörfer sind, zählt bei den jüngeren Beschäftigten zum Alltag.
Reverse Mentoring – das Lernen der Älteren von den Jüngeren – setzt hier an. Außer der Vermittlung von digitalen Tools und Trends bietet es die Chance, generationsübergreifend voneinander zu lernen und die jeweilige Realität des Gegenübers besser zu verstehen. Unternehmen können davon profitieren. Sie müssen es sogar, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen.
Reverse Mentoring zur Personalentwicklung
Kaum eine Revolution hat unsere Kommunikation in einem solch rasanten Tempo verändert wie die Digitalisierung. Während sich die industrielle Revolution noch über drei Generationen hinzog, erlebten wir die digitale Revolution innerhalb einer einzigen Generation. Die Welt ist schneller geworden. Technologien wie Künstliche Intelligenz und Blockchain gehen immer mehr ein in unseren beruflichen und privaten Alltag und machen voraussichtlich viele Jobs überflüssig.
Weltweit könnten bis zu 300 Millionen Vollzeitstellen durch Künstliche Intelligenz wegfallen, schätzt die US-Investmentbank Goldman Sachs. Daher legen manche Arbeitgeber heute schon ihren Mitarbeiter*innen nahe, sich mit den neuen Technologien zu befassen, damit sie später nicht durch neue Arbeitsstrukturen ausrangiert werden.
Das Reverse Mentoring setzt hier an. Denn anstelle des klassischen Mentorings, bei dem erfahrene Kolleg*innen den jungen Menschen als Expert*innen dienen, zielt das Reverse Mentoring darauf ab, eine Beziehung auf Augenhöhe zu schaffen: Es betont das Know-how der Youngsters, deren Wissen als ebenso wertvoll und relevant betrachtet wird wie die Erfahrungen der älteren Kolleg*innen. Reverse Mentoring ist damit eine gute Methode zur Personalentwicklung.
Reverse wachgerüttelt
Es ist das Jahr 2015, als Michael Trautmann so richtig wachgerüttelt wird – von einem 20 Jahre jüngeren Kollegen. Seinerzeit ist Trautmann noch Agenturchef von Thjnk. In einem Personalgespräch zum Ende der Probezeit sitzt ihm sein Mitarbeiter Moritz Fürste gegenüber. Aus Trautmanns Sicht reine Routine, für den damaligen Hockey-Profi sehr viel mehr.
Trautmann ist nach zehn Minuten und sehr viel Lob fertig und hat die verbleibenden 50 Minuten innerlich schon anderweitig verplant, wie er im Gespräch mit absatzwirtschaft rückblickend sagt. Doch dann wendet sich das Blatt. „Moritz hat auf einmal das Wort ergriffen, sich für meine Komplimente bedankt und mich gefragt, ob er mir auch noch ein paar Dinge sagen dürfe“, berichtet Trautmann. Fürste durfte. Es folgt ein 50-minütiges Feedback von jung zu alt, über das Trautmann acht Jahre später noch sagen wird, dass „ich hinterher nicht wusste, ob ich lachen oder weinen sollte, da ich mich so ertappt gefühlt habe“.
Fürste führte Trautmann vor Augen, dass es in dessen Agentur zu der Zeit eine Kultur gab, in der nur gute Nachrichten zählen. Dagegen würden alle unangenehmen Themen entweder totgeschwiegen oder schön verpackt. Fürste war aus dem Profisport schonungsloses und offenes Visier beim Feedback gewohnt, ganz egal wie alt oder jung ein Gegenüber ist. Was beide in dem Moment eher nicht gedacht haben dürften: Dass die Situation ungewollter Weise Reverse Mentoring aus dem Lehrbuch war.
„Reverse Mentoring ist enorm wichtig, weil junge Leute Dinge anders sehen. Moritz hatte diese Sportler-Attitude. Der wusste, wie man nach Niederlagen auf Fehlersuche geht und danach wieder aufsteht. Diese Sicht hat mir total die Augen geöffnet“, sagt Trautmann heute. Für den Co-Founder von New Work Masterskills heißt Reverse Mentoring auch, „sich in beide Richtungen zu mentoren. Reverse Mentoring ist keine Einbahnstraße“, sagt der 58-Jährige.
Mehr Diversität durch Reverse Mentoring
Das weiß auch Paul von Preußen. Der 27-Jährige ist nicht nur direkter Nachfahre des letzten deutschen Kaisers, sondern auch Mitgründer von Digital8.ai, einem Digital-Native-Netzwerk für Reverse Mentoring. Der Ansatz: Unternehmen dabei helfen, die Perspektiven und Bedürfnisse der Generationen Y und Z zu verstehen und zu nutzen.
„Reverse Mentoring geht weit hinaus über den Austausch über technologisches Wissen. Die heutigen Programme konzentrieren sich darauf, den kulturellen Wandel im Unternehmen zu beschleunigen, mit dem Ziel, einen neuen Zeitgeist in der Organisation zu verankern“, sagt von Preußen. Es gehe um einen lebendigen Austausch und darum, dass die unterschiedlichen Generationen einander und ihre jeweiligen Lebenswelten kennenlernen.
Die Ursprünge
Das Prinzip ist nicht neu. Reverse Mentoring wurde erstmals in den 1990er Jahren in den Vereinigten Staaten implementiert. 1999 führte General Electric unter dessen damaligem CEO Jack Welch das Konzept des Generationen-Tandems ein und machte es über die Landesgrenzen hinweg bekannt. In einem Pilotprojekt, bei dem Welch 500 ältere und 500 jüngere Mitarbeiter*innen zusammenbrachte, lernten die „Oldies“ von den „Youngsters“ Wissenswertes zu technologischen Entwicklungen und neuen Werkzeugen. „Wir haben die Organisation auf den Kopf gestellt“, sagte Welch damals. „Wir haben jetzt die jüngsten und klügsten Mitarbeiter, die die ältesten unterrichten.“
Die Vorteile für Mitarbeitende liegen auf der Hand. Durch den Perspektivwechsel entstehen neue Impulse für Kreativität, es wird möglich, Verständnis füreinander zu entwickeln und die Kompetenzen auf beiden Seiten zu stärken. So lassen sich Generationsunterschiede entkräften und die Zusammenarbeit verbessern.
Durch Reverse Mentoring lernen Ältere zum einen die digitale Technik besser verstehen, zum anderen aber auch die Arbeitswelt aus Sicht der jungen Kund*innen und Mitarbeiter*innen von heute und morgen. Es geht also nicht bloß um einen Wissenstransfer, sondern auch um ein Werteverständnis, ein Verständnis füreinander, weshalb Reverse Mentoring in der New-Work-Bewegung einen hohen Stellenwert einnimmt. Denn der Austausch kann helfen, Stereotype abzubauen, zu mehr Inklusion und Gleichberechtigung am Arbeitsplatz führen und damit zu mehr Diversität.
Reverse Mentoring ist keine Einbahnstraße
Reverse Mentoring ist aber nicht einfach ein nettes Programmangebot, um Talente anzulocken. Unternehmen sind beinahe dazu gezwungen, es anzubieten. Denn vielen von ihnen ist es wegen des demografischen Wandels nicht möglich, im nötigen Maße technikaffine Arbeitnehmer*innen zu rekrutieren, zumeist solche aus den Generationen Y und Z. Die tendenziell alternde Belegschaft muss daher durch entsprechende Personalentwicklungsmaßnahmen auf den neuesten Stand gebracht werden.
Eine Einbahnstraße ist das Generationen-Tandem jedoch nicht. Das sieht auch Annahita Esmailzadeh so, die bei Microsoft den Bereich Customer Success Account Management für die Energie- und Chemiebranche leitet und bei LinkedIn mit über 100.000 Follower*innen zu den größten deutschen Business-Influencer*innen gehört. Die 30-Jährige kam erst 2022 über eine Reverse-Mentoring-Initiative des Netzwerks auf das Thema.
„Ich hatte Mentoring-Gespräche mit zwei jungen Frauen, die beide noch am Anfang ihrer Karriere standen. Die Gespräche waren klasse – ich bin mit beiden noch in Kontakt. Mal fungieren sie als meine Mentorinnen, mal ich als ihre Mentorin“, sagt Esmailzadeh. Sie ist „überzeugt, dass wir alle davon profitieren, in einen offenen Austausch zu gehen und voneinander zu lernen“. Via LinkedIn-Initiative sucht sie speziell frische Perspektiven auf das Thema New Leadership.
Ein Jahr zuvor schlug LinkedIn bereits erstmals mit seinem Reverse-Mentoring Programm auf. Bei der Premiere war auch Trautmann als Mentee dabei, der es per se spannend findet, von jungen Menschen zu lernen. LinkedIn will mit der Initiative gezielt Berufseinsteiger*innen und Führungskräfte zusammenführen. An den beiden Programmen nahmen in Summe 15 renommierte Entscheider*innen von namhaften Marken teil.
So geht erfolgreiches Reverse Mentoring
Immer weniger Beschäftigte fühlen sich an ihren Arbeitgeber gebunden. So berichtete das US-Wirtschaftsmagazin „Fortune“ im Jahr 2022, dass 82 Prozent der Arbeitnehmer*innen der Generation Z und der Generation Y (Millennials) erwägen, ihren Job zu kündigen. Das als „Quiet Quitting“ bekannte Phänomen verdeutlicht die Unzufriedenheit vieler Beschäftigter. Auch hier bietet Reverse Mentoring Vorteile, denn es kann das Gefühl von Gemeinschaft steigern und damit ein Zugehörigkeitsgefühl erzeugen – ein respektvoller und vertrauensvoller Umgang miteinander immer vorausgesetzt.
„Der größere Effekt bezogen auf die Fluktuation junger Menschen ist sicher die kulturelle Transformation und hier insbesondere die Veränderung der Führungskraft“, sagt von Preußen. Der direkte Vorgesetzte habe den größten Einfluss auf das Employer Branding und auf die Fluktuation innerhalb seines Teams. „Verändert sich dieser und kann er die Werte und Einstellungen der jungen Arbeitnehmenden besser verstehen und antizipieren, ist das der größte Hebel, den ich als Organisation habe.“ Doch auf was kommt es bei der effektiven Einführung von Reverse Mentoring an?
Erste Schritte
„Reverse Mentoring ist ein Quick-Win und lässt sich unter geringem Ressourcenaufwand in der eigenen Organisation umsetzen“, sagt von Preußen. Der erste Schritt sei die Konzeption und Durchführung eines Pilotprogramms. Begleitet von Expert*innen, werden gemeinsam Ziele und Umfang definiert, die Erstkommunikation, das Matching und die Durchführung der Erfolgsmessung übernimmt der Dienstleister. „Der schmale Grat zwischen Übereinstimmung und Gegensätzen ist der Sweet Spot, den wir erreichen wollen. Tools wie ‚Eisbrecher‘, ‚Learning Nuggets‘ oder Gamification-Ansätze dürfen dabei nicht fehlen.“ Mindestens sechs Monate sollte das Programm laufen, so von Preußen, nach circa zwölf Monaten gebe es dann die Möglichkeit einer Pause oder eines Wechsels.
Ein anderer Ansatz für Führungskräfte ist es, eine Art „Reverse Mentoring by accident“ zuzulassen. Die einzige Zutat für spontane 1:1-Sessions ist laut Trautmann die Offenheit, solche Feedback-Gespräche zu ermöglichen und dies entsprechend immer wieder im Team zu kommunizieren. Andersherum dürfen jüngere Team-Mitglieder auch den Mut aufbringen, ihrer Führungskraft von sich aus ein Feedback anzubieten, wenn ihrer Ansicht nach Mentoring-Bedarf besteht, findet Trautmann.
Microsoft-Managerin Esmailzadeh ergänzt noch einen weiteren Aspekt. „Als Mentee im Reverse Mentoring sehe ich die größte Herausforderung darin, einen ,Safe Space‘ für die Mentor*innen zu schaffen, damit dieser sich von der Position, vom Alter oder von der Erfahrung ihres Mentees nicht eingeschüchtert fühlt – und folglich offenes Feedback auf Augenhöhe geben kann.“
Jede Branche profitiert vom Austausch
Immer mehr Unternehmen in Europa haben in den letzten Jahren Reverse Mentoring eingeführt. Vor allem größere Marken bieten das Generationen-Tandem an, so etwa IBM, Henkel, Merck, Bosch, Continental, die Commerzbank, die Allianz, die Lufthansa und die Deutsche Telekom (S. 26). Konzerne haben gegenüber mittelständischen Unternehmen den Vorteil, dass sie mehr Arbeitnehmer*innen beschäftigen und somit auch mehr Kontaktpunkte zwischen ihnen ermöglichen können. Auch verfügen sie über mehr Gewerke, was einen Austausch zwischen verschiedenen Spezialisierungen interessanter macht. Doch auch Agenturen setzen vermehrt auf den Austausch zwischen Jung und Alt.
Eine offene Gesprächskultur bringt auch Mittelständler nach vorne. Doch können KMU von Reverse Mentoring ebenfalls profitieren? Von Preußen ist sich sicher: „Ein ganz klares Ja! Zu unseren Kunden gehören neben großen Konzernen durchaus auch mittelständische Betriebe, Kirchen und Kulturinstitutionen.“ Denn Diversität, Austausch von Perspektiven und Wissen, Mitarbeiterbindung sowie Kreativität sind auch für sie von Nutzen.
Vorsicht: Fallstricke!
Trotz aller Vorteile und selbst bei sorgfältiger Planung birgt das Reverse Mentoring Risiken. Ein Hauptproblem kann der Widerstand älterer Mitarbeiter*innen sein, wenn diese es als demütigend empfinden, von jüngeren Kolleg*innen geschult zu werden. Die richtige Sensibilisierung und das Fokussieren auf die Vorteile von Reverse Mentoring beugen solchen Ressentiments vor. „Ich halte wenig von Zwangsbespaßung, insofern würde ich immer empfehlen, Reverse Mentoring nur mit freiwilligen Teilnehmer*innen durchzuführen“, so von Preußen.
Auch können Vertraulichkeitsprobleme auftreten, wenn vorab nicht klare Richtlinien und Vereinbarungen getroffen werden. Es ist entscheidend, dass sowohl die Mentor*innen als auch die Mentees die Bedeutung der Vertraulichkeit verstehen und sich verpflichten, die besprochenen Informationen nicht weiterzugeben. Eine klare Vereinbarung über die Vertraulichkeit der Gespräche sollte zu Beginn des Programms erfolgen und von beiden Parteien unterzeichnet werden.
In einer Welt, die sich ständig weiterentwickelt und in der die Digitalisierung immer mehr an Bedeutung gewinnt, wird Reverse Mentoring wohl eine immer wichtigere Rolle spielen. Bis 2030 gehen in Deutschland fünf Millionen Menschen mehr in den Ruhestand, als in den Arbeitsmarkt neu eintreten. Die jüngeren Alterskohorten können die Älteren somit zahlenmäßig nicht ersetzen. „Wir sind vor vier Jahren gestartet, seit etwa einem Jahr sehen wir eine deutliche Zunahme der Anfragen und der startenden Programme. Das liegt zum einen an der fortschreitenden Erkenntnis, mit klassischen Leadership-Formaten nicht effektiv genug voranzukommen“, sagt von Preußen. „Wer nicht wirklich gut auf die jungen Talente eingestellt ist, für den könnte es eng werden.“
Trautmann startet Mentoring-Podcast mit Sohn Oskar
Spätestens seit dem „Moritz-Fürste-Effekt“ bittet Michael Trautmann jüngere Menschen ganz gezielt um Mentoring. Dabei geht es dann weniger um seine Leadership Skills, als mehr um Wissenstransfer, zum Beispiel wenn er neue Dinge wie den Umgang mit Technologien lernen will. „Ich will wissen, wie jüngere Generationen ticken und wie sie auf die Welt schauen“, sagt Trautmann. Dabei helfen ihm auch seine Söhne im Alter von 24 und 27 Jahren. „Von denen lasse ich mich im Prinzip permanent mentoren, ohne es so zu nennen“, sagt er mit einem Schmunzeln.
Mit einem der Beiden, Oskar Trautmann und seines Zeichens Experience Strategist bei Accenture Song, plant er sogar gerade einen eigenen Podcast zum gegenseitigen Lernen. „Ich kann noch nicht zu viel verraten, aber es wird vom Ansatz her eine Art Life-Mentoring in beide Richtungen“, sagt Trautmann.
Ungeachtet dessen befindet sich Trautmann derzeit auch im Daily Business nach eigenen Angaben „im wahrscheinlich intensivsten Reverse-Mentoring-Programm, in dem ich jemals war“ – und zwar durch seine 44-jährige Geschäftspartnerin Swantje Allmers, die immerhin eine halbe Generation jünger ist. Er sagt: „Von Swantje lerne ich jeden Tag, denn sie hat auch unzählige Ausbildungen in diesem Bereich.“ Dies sei auch enorm wichtig, denn beim Mentoring kommt es bekanntlich immer auch auf das Wie an.