Wenn Frank Beckmann über sein Geschäft spricht, fällt ihm die Geschichte von Swimmy ein. Das ist der kleine Fisch, der allein und ängstlich durchs Meer schwimmt, bis er mit einem Schwarm die Gestalt eines großen Fisches abbildet und so die Feinde verscheucht.
Der 46-Jährige ist Schuhhändler in der vierten Generation. Seit 1998 führt er das Schuhhaus Lötte in Bochum, hat zwei weitere Geschäfte aufgebaut und eine orthopädische Werkstatt. „Wir sind gut aufgestellt“, findet er noch heute. Mit der Online-Welt hingegen hat sich Beckmann anfangs schwergetan. Wie baut man Präsenz auf? Kann man mit Amazon verhandeln? „Ich wusste: Allein schaffst du das nicht.“
Dann kam der große Fisch. Schuhe.de. Schuhe.de ist eine Plattform, auf der sich Fachhändler gemeinsam präsentieren – und die auch mit großen Marktplätzen kooperiert, wie Zalando oder Amazon. Initiator ist die ANWR Group, ein Einkaufsverbund selbstständiger Händler aus der Schuh- und Sportbranche. 2012 habe man sich zum Aufbau von Schuhe.de entschlossen, sagt Alexander Hock, Geschäftsführer der zuständigen Tochter ANWR Media. „Da waren 95 Prozent unserer Mitglieder noch nicht online.“ Heute seien 1 700 auf der Plattform, und immerhin knapp die Hälfte verkauften auch via Internet. Schnittstellen-Management, Vertragsverhandlungen, Bestellannahme, Marketing: „Wir wickeln alles ab“, sagt Hock. Der Händler muss nur noch versenden.
Es ist, wenn man so will, der dritte Weg im Online-Geschäft. Bisher entscheiden sich Händler meist zwischen Marktplatzmodell und Spezialisierung (siehe Kasten). Plattformen wie Schuhe.de hingegen versuchen die Quadratur des Kreises: Eine griffige URL und vergleichsweise große Auswahl sollen ebenso Kunden anziehen wie ein mit individueller Fachkompetenz zusammengestelltes, besonderes Sortiment. Auch für Händler liegen die Vorteile auf der Hand: Sie vermeiden Lieferengpässe, teilen die Kosten für einen – hoffentlich – professionellen Online-Auftritt und haben mehr Verhandlungsmacht gegenüber Kooperationspartnern.
Tyrannei der Auswahl
Im Online-Handel haben sich im Wesentlichen zwei Modelle durchgesetzt. Das eine besteht darin, ein möglichst großes Angebot zu schaffen, wie es Amazon, Otto und Zalando vormachen. Das kann praktisch sein, hat aber eine Kehrseite, sagt Handelsexperte Erik Maier: „Amazon ist wie ein übermäßig großes, unsortiertes Warenhaus. Wer weiße Sneakers sucht, hat 10 000 Treffer. Da kommt der Kunde nicht mehr durch. Es ist eine Tyrannei der Auswahl.“ Hier können Fachhändler mit dem zweiten Modell punkten: Spezialisierung. Indem sie etwa gezielt Naturkosmetik anbieten oder Mode für berufstätige Mütter. Maier: „Den Kunden ermöglichen, schneller zu finden, was sie tatsächlich suchen. Ihnen die Sicherheit geben, dass es Qualitätsware ist und nicht am Ende sogar gefälscht.“ Darüber hinaus sei es mit einem kuratierten Angebot leichter, eine Community aufzubauen und diese mit spezifischem Content wie Blogs oder Newslettern an den Shop zu binden. In einige Fällen gelingt es Online-Händlern mit einem mit großer Fachkunde gepflegten Nischenangebot sogar, international bekannt zu werden, wie Asphaltgold (Sneakers), Rebelle (Secondhand-Designermode), Saiten-Versand (Musiksaiten) oder Japanesechefsknife (teure Küchenmesser).
Hoffnung auf größere Unabhängigkeit von Amazon
Da geht es, natürlich, vor allem um Amazon. Laut Branchenreport 2018 des Marktforschungsinstituts IFH in Köln macht das Eigengeschäft des US-Konzerns 21 Prozent des gesamten deutschen Online-Handels aus; weitere 25 Prozent laufen über Amazon Marketplace. Lediglich ein Viertel der Internetumsätze sei noch völlig unabhängig von Amazon. „Für Händler und Hersteller gilt es, eigene qualitative Zugänge zum Kunden zu erarbeiten“, mahnt Eva Stüber, Mitglied der IFH-Geschäftsleitung.
Fachhändler-Plattformen liegen nahe, um die Abhängigkeit von den ganz Großen zu verringern. Wohl auch deshalb lebt der Gedanke in verschiedenen Branchen immer wieder auf. In Hameln etwa versucht der Kaufmann Holger Wellner, unter Modehaus.de einen Online-Marktplatz aufzubauen. Wellner, der vor 20 Jahren in das stationäre Modehaus seiner Eltern einstieg, hat unter dieser Adresse bereits ein Netzwerk von über 30 Bekleidungsspezialisten etabliert. Bisher war es das Ziel, durch Erfahrungsaustausch und gemeinsamen Einkauf die technischen Hürden der Digitalisierung besser zu meistern. Nun also der nächste Schritt.
Im Buchhandel startete 2015 Genialokal.de, mit 600 Mitgliedern der Genossenschaft eBuch. Auch hier will man Fachhandelskompetenz in einem gemeinsamen Auftritt bündeln. Kunden können über Genialokal prüfen, ob ein Buch in einer bestimmten Buchhandlung vorrätig ist, und es zur Abholung reservieren (click & collect). Oder sie lassen es sich über den Großhändler Libri senden, der an der Plattform ebenfalls beteiligt ist. Mit diesem vertikalen Ansatz unterscheidet sich Genialokal deutlich von Spezial-Suchmaschinen wie Moebel.de, die lediglich auf die Webshops einzelner Anbieter verlinken.
Fernsehwerbung mit der Tatort-Kommissarin
Auf dem Markt für Schuhe existiert neben Schuhe.de, das auf ANWR-Mitglieder beschränkt ist, auch noch Schuhe24.de. Dominik Benner, Spross einer Schuhhändlerfamilie, erhielt dafür 2015 den Gründungspreis des Landes Hessen. Rund 160 Händler präsentieren ein Sortiment von 120 000 Schuhen, der Umsatz liegt laut Benner bei 55 Millionen Euro.
Auf Schuhe.de haben sich Mitglieder eines Einkaufsverbundes zusammengeschlossen
Wie Schuhe.de übernimmt auch Schuhe24.de für die Händler die Abwicklung außer dem Versand und kooperiert mit großen Plattformen. Gleichwohl definiert Benner seine Initiative ausdrücklich als Gegenmodell: „Amazon ist nicht die Lösung für den Fachhandel, sondern ein Krisenfaktor. Die zerstören massiv die Preise.“ Die Fernsehwerbung von Schuhe24 mit Ex-Tatort-Kommissarin Andrea Sawatzki betont drei Markenfeatures: echt, lokal, „vom Händler“.
Der Händler Dominik Benner gründete die Gemeinschaftsplattform Schuhe24.de
Als Online-Facilitator haben die Plattformen offenbar ein tragfähiges Geschäftsmodell gefunden. „Wir bieten eine Anbindung an die ganze Welt des E-Commerce“, sagt Geschäftsführer Hock – und das für 30 Euro monatlich. Ob das Eigengeschäft der Plattformen aber ein Erfolg ist, ist schwer zu beurteilen, weil sie keine Zahlen zur Reichweite veröffentlichen. Ohnehin scheint unklar, wo ihr Nutzen für Kunden liegt, die vornehmlich an Auswahl interessiert sind – da haben die ganz Großen mehr zu bieten. Erik Maier, Professor für Handels- und Multichannel-Management an der HHL Leipzig, sieht den USP der Plattformen eher in der Information: „Kunden können sehen, was ein lokaler Händler aktuell bietet und ob es sofort verfügbar ist.“
Juweliere.de ruht – „da ist viel Basisarbeit zu tun“
Als Allheilmittel zur Rettung des Fachhandels taugen die Allianzen gleichwohl nicht. „Ein schlechtes Offline-Geschäft lässt sich nicht online kompensieren“, sagt Martin Groß-Albenhausen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes E-Commerce und Versandhandel (bevh). Darüber hinaus sieht er bei Zusammenschlüssen technische Probleme: Daten- und Bildmaterial seien oft von unterschiedlicher Qualität, auch spiegelten die Sortimente meist den Ladenbestand und seien damit „nicht unbedingt fürs Internet gemacht“. Geklärt werden müsse, wie damit umgegangen wird, wenn sich Sortimente überschneiden. Erfolgreiche Marktplätze legen die Datenqualität fest und setzen sie durch. „Solche Fragen im Schwarm zu diskutieren heißt nicht, dass es nicht funktionieren kann. Aber einfach ist es nicht.“
Zumindest brauchen die Beteiligten einen langen Atem, wie das Beispiel Juweliere.de zeigt. Mit viel Optimismus vor fünf Jahren gestartet, ruht die Plattform derzeit. Die Händler seien divers, die Voraussetzungen bei der Infrastruktur äußerst unterschiedlich, erklärt eine Projektverantwortliche. „Da ist viel Basisarbeit zu tun. Die erledigen wir gerade.“ Auch Alexander Hock von Schuhe.de kennt die Schwierigkeiten, die schon allein aufgrund unterschiedlicher Warenwirtschaftssysteme entstehen. „An unsere Plattform gibt es über 40 verschiedene Anbindungen, und die auch noch in unterschiedlichen Versionen.“
Für Schuhhändler Beckmann ist die Plattform gleichwohl alternativlos. „Als Schuhhaus Lötte wären wir im Netz nicht sichtbar“, ist er überzeugt. Er sagt, dass er heute täglich eine zwei- bis dreistellige Zahl von Schuhpaaren übers Internet verkauft, statt wie früher zwei bis drei in der Woche. Und auch wenn er die eine oder andere Frage stellt – „Könnte der Shop noch besser aussehen? Sind wir Social-Media-mäßig gut aufgestellt?“ –, lässt er auf das Modell großer Fisch nichts kommen: „Es ist so logisch.“