Frau Freienstein, mit Verlaub: Ihr Unternehmen Lands’ End fällt einem nicht auf Anhieb ein, wenn es um digitale Vorreiterschaft geht. Dabei haben Sie die ersten Ausflüge ins E-Commerce bereits 1995 gewagt. Das war nur kurz nach der Gründung von Amazon. Was haben Sie damals an Chancen gesehen, die viele andere noch nicht erkannt hatten?
Lands’ End ist ohne Frage einer der Vorreiter beim E-Commerce im Modesegment – allen voran in unserem Heimatmarkt, den USA. Gary Comer, der das Unternehmen 1963 gründete, hat einen Grundsatz ganz fest in der DNA von Lands’ End verankert. Und das ist die absolute Orientierung an den Wünschen der Kundinnen und Kunden. Bei uns galt das Prinzip der absoluten Customer-Centricity schon lange, bevor diese Vokabel in der modernen Betriebs- und Marketingwissenschaft Mode machte. In den Neunzigerjahren, mit dem beginnenden Siegeszug des Internets, haben wir früher als mancher Wettbewerber erkannt, welches Potenzial neue Technologien bieten, noch näher an unsere Kundschaft und vor allem potenzielle Neukunden heranzukommen. Wir waren einer der ersten Modehändler, die auf Call-center oder Fax-Bestellungen gesetzt haben. Später wurde das dann durch die Online-Order ersetzt. Aber die frühe Adaption, die frühe Nutzung innovativer Technologien und der dafür notwendige Mut – das zeichnet Lands’ End seit jeher aus. Und genau deshalb waren wir auch nur wenige Wochen nach Amazon mit unserem ersten Webshop online. Wir waren Vorreiter im Bereich KI-gestützter Kundenservice im Jahr 2013 und eine führende E-Commerce-Marke mit einer KI-gestützten 360-Grad-Kundenreise.
90 Prozent Ihrer Umsätze erzielen Sie mittlerweile im Onlinegeschäft. Stirbt das stationäre Business aus?
Das Digitalbusiness dominiert, ganz klar – auf unserer eigenen Site und in Kooperation mit anderen Marktplätzen. Dabei wächst vor allem das Mobile Business. Bereits mehr als die Hälfte unserer Kundinnen und Kunden bestellt die Waren via Smartphone. Gerade das Mobile Business ermöglicht uns eine viel größere Nähe zur einzelnen Kundin und zum einzelnen Kunden. Wir können viel direkter mit ihnen interagieren. Was das stationäre Geschäft angeht: Als regionale Organisation konzentrieren wir uns in Europa sehr stark auf den E-Commerce. Aber wir denken zugleich darüber nach, wie wir unseren Kundinnen und Kunden umfassende holistische Angebote unterbreiten können. Und in diesem Zusammenhang spielen stationäre Touchpoints durchaus eine Rolle.
Kommen wir nochmals zurück zur „Customer-Centricity“. Jede und jeder im C-Level führt diese Vokabel aktuell im Mund. Aber was genau bedeutet das für die unternehmerische Praxis?
Vor allem, und das zeigt unsere Historie sehr gut, steht Customer-Centricity für ein ganz holistisches Mindset. Es geht darum, dass bei jeder Entscheidung, bei jeder Aktivität immer zuerst aus dem Kundenblickwinkel gedacht und agiert werden muss. Alles, was wir tun und planen, alle Daten, die wir sammeln und in Echtzeit ausspielen, müssen unseren Kundinnen und Kunden nutzen. Und genau mit dieser Haltung funktioniert unsere Website. Wir fahren sehr, sehr viele Tests, befragen unsere Kundschaft regelmäßig, um jeden Tag einen noch besseren Service und ein noch besseres Nutzererlebnis beim Stöbern und Auswählen der Produkte bieten zu können, und nutzen KI, um Daten zu automatisieren und effizient zu managen.
Bahnkunden ärgern sich derzeit über massive Verspätungen, Flugreisende kommen oft gar nicht mehr pünktlich ans Gate. Was sind denn Ihrer Erfahrung nach die größten Painpoints bei der digitalen Kundenreise?
Das große Thema ist die Geschwindigkeit einer Seite. Alles auf Speed, sozusagen. Wir investieren gerade in ein komplettes Update unserer Plattform. Wir sind beim Speed schon gut, können aber stets noch besser werden. Das gilt vor allem für die Einbindung von Videos. Sie sind gerade beim Onlinekauf von Modeartikeln zunehmend wichtiger, verlangsamen aber in der Masse leider auch die Geschwindigkeit einer Site. Hier arbeiten wir mit Hochdruck an einer Lösung. Daneben spielt die Kundenführung im Onlineshop eine zentrale Rolle: Wie komme ich effizient zu dem Produkt, das ich sehen möchte? Wie werde ich clever auf weitere Produkte aufmerksam? Da machen wir uns ganz, ganz viele Gedanken und antizipieren die nächsten Schritte der Kunden durch KI. Wir wollen die Customer-Journey zugleich so erlebnisreich wie bequem gestalten und dafür vor allem die Zahl notwendiger Klicks minimieren, um den Kunden effizient ans Ziel zu führen.
Wie viel wissen Sie über Ihre Kundschaft?
Eine Menge – und wir lernen jeden Tag dazu. Das tun wir – und das ist uns sehr wichtig – aber stets bei voller Einhaltung der Datenschutzgrundsätze. Der Schutz unserer Kundinnen und Kunden hat absoluten Vorrang. Nichtsdestotrotz wissen wir sehr viel über sie. Wir kennen ihre Präferenzen in der Navigation. Wir wissen sehr viel über ihre Wünsche an unsere Produkte. Die Informationen, die wir aus der Interaktion mit den Kunden und ihren digitalen Journeys gewinnen, helfen uns, immer besser zu werden. So sind unsere Kunden sozial sehr engagiert. Sie hinterfragen die Qualität und Herkunft der Produkte stärker als anderorts. Wir haben sehr anspruchsvolle, aber auch sehr loyale Kunden. Die Kundenzufriedenheit und die Weiterempfehlungsbereitschaft – gemessen am Net Promoter Score (NPS) – sind für uns zentrale Steuerungsgrößen.
Auf dem „Handelskongress“ im November dieses Jahres in Berlin sprechen Sie zum Thema „The Changing Customer“. Kundinnen und Kunden wollen heute alles und das jederzeit, von jedem Ort aus. Wie werden Sie diesen Ansprüchen, die enorme logistische Implikationen haben, gerecht?
Es ist existenziell wichtig, dass wir die Kundinnen und Kunden glücklich machen und den besten Service bieten. Zugleich aber prüfen wir, und das rate ich allen Unternehmen, auch stets zu prüfen, welcher Markttrend wirklich für einen selbst Relevanz hat. Konkret: Wir wollen und können nicht alle Produkte anbieten, die sich mancher Kunde wünscht. Manche Dinge verbieten sich einfach mit unseren ethischen Grundsätzen. Wir stehen als Unternehmen für ganz bestimmte Werte und kommunizieren diese auch aktiv gegenüber unseren Kundinnen und Kunden. Ein anderes Beispiel sind die Zahlungsverkehrsarten: Dort gibt es mittlerweile eine wahre Inflation an Optionen. Diese alle anzubieten, wäre technisch wie ökonomisch unsinnig. Hier müssen wir selektieren und bieten daher die aus Kundensicht besten und am häufigsten gewünschten Zahlungsarten an. Was nicht bedeutet, dass in Zukunft nicht weitere dazukommen werden.
Wie sieht Ihr eigenes Einkaufsverhalten aus?
Digital und analog – ich genieße die Vielfalt. Ich finde das auch sehr wichtig. Hier in London bin ich gesegnet mit tollen Geschäften. Aber ich folge zugleich auch Influencern auf Instagram und TikTok und kaufe ab und an deren Modetipps im Web nach. Und, klar, auch in unserem Webshop werde ich immer fündig. Das Midi-Leinenkleid, das ich heute trage, war unser Sommer-Top-Seller, und ich habe es mir gleich viermal gesichert. Dieser Sommer ist selbst in Großbritannien unfassbar heiß.
Constanze Freienstein steht seit Oktober 2019 als Managing Director Europe an der Spitze der Lands’ End Europe Ltd. mit Sitz in London. Sie ist damit oberste Europa-Chefin des 1963 in den USA gegründeten Textileinzelhandelsunternehmens. Die gebürtige Deutsche verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Führung und Beratung erfolgreicher Multichannel-Einzelhandels- und Lifestyle-Unternehmen in Europa. Sie hatte wichtige Führungs- und Vorstandspositionen bei verschiedenen europäischen und US-amerikanischen Unternehmen inne, darunter Hudson’s Bay, McArthurglen Group, Metro AG, Kearney und P&G. Ihre Karriere begründete Freienstein 1997 mit dem Abschluss als Diplom-Wirtschaftsingenieurin am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
Dieser Text erschien zuerst im Handelsjournal.