Die Transformation hin zu einer agilen Organisation ist für viele Unternehmen ein Ziel, das ganz oben auf ihrer Agenda steht. In der aktuellen Studie „Agile Pulse 2022“ stufen 96 Prozent der Befragten die zukünftige Relevanz agiler Methoden als hoch ein. So verspricht agiles Arbeiten eine verbesserte Reaktionsfähigkeit, verbessertes Zusammenarbeit, erhöhte Geschwindigkeit sowie verbesserte Produktqualität.
Vergleicht man jedoch die angestrebten Ziele von Unternehmen mit den jeweils tatsächlich erreichten Verbesserungen, wird deutlich, dass durchschnittlich nur ein von neun Zielen erreicht wurde. Doch woran liegt das? Fragt man Tillmann Seidel, Portfolio Owner bei HR Pioneers, muss die gesamte Organisation hin zu mehr Agilität verändert werden.
Welche Herausforderungen bringt eine agile Transformation?
„Es handelt sich um eine mehrdimensionale und disruptive Organisationsveränderung“, erklärt der Experte für agile Methoden und Organisations- und Personaldiagnostik. In dieser Art von Entwicklung werde das organisationale System so umgebaut, dass sich Grundannahmen, Wertvorstellungen und Muster der Zusammenarbeit und Kommunikation radikal verändern. Und das müsse eine Organisation erstmal mitmachen.
„Neben den vielen Herausforderungen, die bei jedem Wandel und jeder Veränderung auftreten, ist die größte Herausforderung, die ich sehe, dass viele Organisationen nicht die grundlegende Veränderungsmotivation haben“, findet Seidel. „Sie wollen agiler werden, um die Effekte davon zu genießen, aber ohne für sich zunächst einmal ggf. unbequeme Konsequenzen in Kauf zu nehmen: ‚Wasch mich, aber mach mich nicht nass.‘“
Für viele Führungskräfte bedeute das, Macht und Kontrolle abzugeben. Es könne zu radikalen Rollenwechseln kommen – je nachdem, wie konsequent ein Unternehmen Transformation betreibt. Das kann laut Seidel zu einer großen Verunsicherung unter den Mitarbeiter*innen führen.
Viele stellen sich die Frage: „Wenn es meine Rolle in der Form in Zukunft nicht mehr gibt, braucht es mich dann überhaupt noch? Es ist schwierig, eine solche Veränderung nicht auf sich persönlich zu beziehen und emotional zu verstehen, dass das erstmal nichts mit mir als Mensch zu tun hat. Das löst Zweifel und Reaktanz aus“, sagt Seidel.
Was bedeutet agiles Arbeiten für Mitarbeiter*innen?
Laut dem Experten von HR Pioneers müssen die Mitarbeiter*innen sehr viel selbstbestimmter und eigenverantwortlicher sein: „Das führt meiner Beobachtung nach oft zu zwei Effekten: Verantwortungsdiffusion und Orientierungslosigkeit. Nach dem Motto ‚Nimm du ihn, ich hab ihn sicher!‘ passieren wichtige Dinge nicht mehr, weil nicht mehr klar ist, wo die Verantwortung dafür liegt.“
Auf der anderen Seite werde Agilität und Selbstorganisation oft missinterpretiert als ein ‚Ich mach jetzt, was ich will‘. „Und das ist mitnichten das, worum es geht. Es braucht bei aller Autonomie trotzdem Alignment, also eine gemeinsame Ausrichtung und die Selbstverpflichtung, auch auf diese gemeinsame Ausrichtung hin zu agieren. Wir sind schließlich immer noch eine Organisation mit einem Zweck“, sagt Seidel.
Was sind die Vorteile einer agilen HR?
„Eine agile HR ist vor allem Brokerin im Unternehmensnetzwerk und bringt Menschen zusammen, anstatt Macht und Einfluss zu horten. Sie stellt Tools und Methoden zur Verfügung, durch die die Mitarbeiter*innen befähigt werden, viele Dinge unbürokratisch selbst zu machen“, erklärt der Agile-Experte.
„Die Instrumente, die eine agile HR nutzt und entwickelt, sind auf Teams und gemeinsamen Erfolg mündiger, erwachsener Menschen ausgelegt, und weniger auf einzelne High-Performer*innen und individuelle Leistung. Das fängt bei einem Recruiting an, welches wirklich die Kandidat*innenbedürfnisse in den Mittelpunkt stellt, geht über eine empowernde Personalentwicklung, welche Eigenverantwortung und Potenzialentfaltung jeder*s Einzelnen fördert, und hört bei Anreizsystemen, die den kollektiven Erfolg in den Mittelpunkt stellen, noch lange nicht auf.“ Um ein gutes und ganzheitliches Bild über moderne, agile HR-Arbeit zu bekommen, empfiehlt Tillmann Seidel das Buch „Der Weg zur agilen HR Organisation“ von HR Pioneers.
Tops und Flops bei der Anwendung von agilen Tools
Seidel zufolge waren es früher vor allem die „kleineren“ Tools auf der Micro-Ebene, die in HR gut funktioniert haben, beispielsweise Kanban Boards, um den Betrieb innerhalb der HR-Teams zu organisieren oder die Recruiting-Prozesse schneller und leaner zu machen. Mittlerweile sei aber auch HR an dem Punkt angelangt, an dem die übergreifende Zusammenarbeit agiler gestaltet und stärker in übergreifenden Wertströmen gedacht wird.
„Was bei mehreren Kund*innen in letzter Zeit sehr viel Nutzen gestiftet hat, ist, ein agiles Portfoliomanagement und Flight-Level-System innerhalb von HR anzuwenden. Dieses ist dazu da, die Strategie agil kundenzentriert zu entwickeln, iterativ und adaptiv zu pflegen und möglichst schnell und mit Rückkopplungsschleifen zu operationalisieren“, erklärt Seidel.
Ansonsten gelte für HR das, was für alle gilt: „Willst du, dass es floppt, dann zwinge deiner Organisation und deinen Teams Methoden und Frameworks auf, von denen du meinst, dadurch würden sie agiler.“ Es gebe mittlerweile genug Beispiele, die anschaulich gezeigt haben, dass es nichts bringt, jedes Team nach Scrum arbeiten zu lassen oder auf organisationaler Ebene das Spotify-Modell zu implementieren, wenn es überhaupt nicht zu der eigentlichen Wertschöpfung passt.
Wie gelingt eine agile Transformation?
Um eine ganzheitliche Transformation erfolgreich umsetzen zu können, sollten sich Unternehmen laut Seidel vor allem auf vier Dinge konzentrieren: Menschenzentrierung, Entwicklungsorientierung, eine sinnvolle Machtverteilung und ein ganzheitliches Systemdenken.
Dabei sollten sich die Unternehmen vor allem folgende vier Fragen stellen:
1. Was stellen wir in den Mittelpunkt unseres Tuns?
„Um mich auf das Wesentliche konzentrieren zu können, muss ich einerseits von den Kund*innen her denken (outside-in) und andererseits die Mitarbeiter*innen in den Mittelpunkt stellen und alle Prozesse weglassen, die sie behindern, sich auf die Kund*innen zu konzentrieren“, sagt Seidel und rät, den vollen Fokus auf das zu setzen, was wirklich wichtig ist.
„Die Prozesse müssen den Menschen dienen, nicht andersherum. Hier geht es um radikale Menschenzentrierung“, erklärt er. Nicht umsonst lautet das Motto des Agile-Experten: „Knowing is not enough, we must apply. Willing is not enough, we must do.“
2. Welchen Stellenwert haben Lernen und Entwicklung?
Das Kernprinzip von Agilität ist „Inspect & Adapt“. „Es geht darum, aus allem, was man tut, zu lernen. Daher müssen wir weg von Null-Fehler-Toleranz und ‚der erste Schuss muss sitzen‘“, so Seidel. Teil dieses Prozesses sei es auch, dass ein Team in regelmäßigen Abständen reflektiert, wie es effektiver werden und sein Verhalten anpassen kann.
Man müsse umdenken und hin zu „Versuch und Irrtum, inspect and adapt, iterativ-inkrementellem Arbeiten, Hypothesen und Experimenten, öffentlichen Reviews, Retrospektiven auf allen Ebenen“. Voraussetzung dafür seien Offenheit, sich auf Ideen einzulassen und Mut, sie auszuprobieren. „Hier geht es um konsequente Entwicklungsorientierung“, erläutert Seidel.
3. Wie verteilen wir Macht?
Doch nicht nur Entwicklungsorientierung ist wichtig, auch Commitment und Achtsamkeit mit sich selbst und im Umgang mit anderen sind laut dem Agile-Experten nötig, um Schnelligkeit zu gewinnen und Kreativität und Innovation zu fördern. „Hier geht es um sinnvolle Machtverteilung“, sagt der Management-Psychosoph, wie sein offizieller Titel bei HR Pioneers lautet, und erklärt: „Wenn, wie in klassischen Organisationen, die Macht bei wenigen bis einzelnen kumuliert ist, dann ist die Organisation notwendig begrenzt auf die Fähigkeiten und die Kreativität dieser wenigen.
Um aber übersummative Ergebnisse zu fördern, die es insbesondere für Innovation und Neuentwicklungen braucht, müssen wir diese Kumulierung aufbrechen.“ Das bedeute, dass man sich von Top Down und Zentralisierung trennen müsse und stattdessen Selbstorganisation, verteilte Führung und Vertrauen brauche.
4. Wie steuern wir das Unternehmen?
Zu guter Letzt geht es darum, die systemischen Zusammenhänge und Abhängigkeiten in der Organisation zu sehen und zu verstehen. „Wir müssen weg von Zerteilen, hauptsächlicher Förderung von Expertentum, economy of scale, direkter Steuerung einzelner Individuen, hin zu einer ganzheitlichen Sichtweise auf Wertschöpfungsprozesse, Team- und Netzwerkgedanken, Cross-Funktionalität, End-to-End-Denken und Respekt für die unterschiedlichen Typen und Sichtweisen von Menschen, Priorisierung und Fokussierung auf allen Ebenen. Hier geht es um ganzheitliches Systemdenken“, erläutert Tillmann Seidel.
Der Experte ist sicher, dass ein Unternehmen schneller werden und qualitativ hochwertigere und innovative, wirklichen Kund*innennutzen stiftende Produkte und Dienstleistungen an den Markt bringen kann, wenn all diese Aspekte bedacht sind. „Man muss sich nur bewusst machen: Das ist in Teilen nicht effizient, aber effektiv. Und es stellt einen Kontrollverlust für diejenigen dar, die ggf. in klassischeren Organisationen ‚alle Zügel in der Hand hatten‘“, sagt Seidel.
Wann sollte man agile Methoden einsetzen?
Generell funktioniere Agilität in einem gewissen Kontext. „Wenn ich ein Umfeld habe, welches sehr komplex ist, also wo ich schwierig vorhersagen kann, was passiert, und welches sich durch eine hohe Dynamik auszeichnet, dann ist Agilität eine gute Sache. Denn dort hat man eigentlich nur die Chance, Schritt für Schritt vorzugehen und zu lernen, sich anzupassen und Neues zu entwickeln, das den Horizont einzelner Expert*innen übersteigt“, so Seidel.
Es gibt hingegen im Arbeitskontext genug Situationen und Arbeiten, die nicht komplex, sondern kompliziert oder, im Gegenteil, sehr einfach sind. Hier bringen agile Methoden nur bedingt etwas. „Sie machen sogar unnötig langsam und am Ende schlechtere Ergebnisse“, erklärt der Agile-Profi. „Agile Werte hingegen funktionieren auch in solchen Bereichen. Also Mut, Augenhöhe, Offenheit, Vertrauen, Fokus und Respekt schaden auch in komplizierten und einfachen Kontexten nicht.“