Zugegeben, bevor ich 2005 meine Karriere über Umwege in der Werbebranche startete, umgab die Branche für mich von außen betrachtet etwas Sagenumwobenes und – als Informatiker – auch viel Fremdes. Schwer zu ertragende Selbstdarsteller, lustige bunte Vögel, undurchsichtige Awards, sehr lange Arbeitstage. Nicht erst seit dem Lesen von Beigbeders wildem Neununddreißigneunzig schreckte die Branche mich ab und zog mich gleichzeitig an. Der Reiz daran, mit Kreativität Probleme zu lösen und sich immer wieder mit neuen Dingen auseinanderzusetzen: Erfindergeist pur. Hierin fand ich die Parallele zur Welt der Algorithmen und der Bits & Bytes – meiner beruflichen Heimat. Denn entgegen der landläufigen Meinung sind auch Geeks, Nerds und Programmierer sehr kreative Köpfe. Ihre Kreativität leben sie nur in anderen Kanälen – wie dem Programmcode – aus.
KI hält Einzug in die Kreativbranche
Jetzt, nachdem ich in den vergangenen 15 Jahren mit meinen beiden Kollegen Stefan und Maik unter anderem eine ganz ansehnliche Kreativ-Agentur gegründet habe, hält endlich die nächste Stufe der beiden Paralleluniversen – Technik & Kreativität – Einzug. Zugegeben, nicht mit einem „BIG BANG“, eher mit etwas behäbigen Schritten. Aber immerhin: Künstliche Intelligenz schreibt ACDC-Songs, KI schreibt Romane, KI schickt sich an, Jobs von Kreativen zu übernehmen. … Was erlaube KI?!
Was überraschend schnell geht, ist die Reaktion der Kreativbranche: Kaum traut sich ein KI-basiertes Werk aus der Deckung, dauert es nur wenige Momente, bis ein Kreativer gefunden ist, der alles in seine Bestandteile zerpflückt und einmal mehr ein vermeintlich unumstößliches Credo der Kreativbranche in die Steintafel meißelt: Künstliche Intelligenz wird menschliche Kreativität nie ersetzen!
KI denkt nicht, sie entscheidet
Sicher sind die bisherigen Ergebnisse weder mega kreativ noch wirklich bahnbrechend, aber darum geht es auch (noch) nicht. Jedoch zeugt so ein vorschnelles Abhaken von dem Unwissen über die Mechaniken, die hinter dem Begriff „Künstliche Intelligenz“ stecken. Es geht nicht darum, die Funktionsweise des menschlichen Gehirns nachzubauen und somit zu ersetzen. Es geht darum, Entscheidungsprozesse mit den Mitteln der Informatik und der Mathematik autonom durchzuführen.
Die Bandbreite an Aufgaben, die solche Entscheidungsprozesse fordern, reicht von eher simplen Tasks wie „Schreibe mir einen ACDC-Song“ bis zu vergleichsweise schweren Aufgaben wie „Fahre mich sicher und auf der schnellsten Route zum Supermarkt“. Gemein haben beide Aufgaben eins: Je besser ein System angelernt wird, desto besser werden die Ergebnisse. Auf die beiden Beispiele bezogen heißt das: Je mehr ACDC-Songs gelernt wurden, umso besser wird das Ergebnis im Sinne einer Kopie sein. Je mehr Lern-Kilometer ein autonom fahrendes Auto zurückgelegt hat, umso unfallfreier bringt es uns von A nach B. Und bei all dem darf man nicht vergessen, dass es sich oft um erste Gehversuche eines sehr schnell lernenden Systems handelt. Algorithmen werden besser. Rechenleistung wird besser. Somit beschleunigen sich das Lernen und, was viel wichtiger ist, auch die Umsetzung. Eine KI kann hunderte Songs in Sekunden kreieren.
Unsere Kreativität kann von KI profitieren
In erster Linie ist Kreativität eine abstrakte Idee von Qualifikation. Bin ich kreativ, schaffe ich fantastische Dinge, auf die du selbst vielleicht nie gekommen wärst. Was der kreative Prozess dabei immer erfordert, ist Stimulation. Wer also etwas möglichst Neues, Originelles und Nützliches kreieren will, pickt sich aus möglichst vielen Antworten auf eine Frage die beste heraus und feilt so lange an ihr, bis sie perfekt ist. Kreativität wird oft als ein Synonym für Originalität genutzt. Wenn wir nun aber immer nach der originellen Nadel im Heuhaufen suchen, warum sollten wir genau diese Arbeit nicht von einer Künstlichen Intelligenz erledigen lassen? Ich bin davon überzeugt, dass KI ein großer Antrieb für unsere menschliche Kreativität sein kann. Agenturen können davon nur profitieren und es wäre verhängnisvoll, sich vor der aktuellen Entwicklung in diesem Bereich zu verschließen.
Don Quijote lässt grüßen
Wir Agenturen sollten ein Interesse daran haben, Arbeitsprozesse zu automatisieren und mehr kreative Freiräume zu schaffen, indem wir unter anderem Künstliche Intelligenz einsetzen. Das bedeutet nicht, dass die Arbeit unserer Kreativen an Wert verlieren wird, sondern dass sie in manchen Aufgabenbereichen Unterstützung und Inspiration erhalten, um noch bessere Ergebnisse zu erzielen. Der befürchtete Supercomputer, der unsere kreativen Gehirne ersetzt, ist ein Phantom und „Mensch vs. KI“ somit ein Kampf gegen Windmühlen.
Leider lässt der Rahmen dieses Kommentars nur eine sehr oberflächliche Betrachtung eines äußerst komplexen Themas zu. Noch viel oberflächlicher (und auch schädlich) ist jedoch die Abschottung einiger Branchenkollegen gegenüber dieser Entwicklung. Der Rückzug auf das scheinbar letzte Asset der Agenturbranche, die Kreativität, gleicht für mich eher einer Bankrotterklärung. Wo ist die Lust auf Neues? Wo ist der Antrieb, sich immer wieder neu zu erfinden? Seid nicht Nokia! Stellt euch der Herausforderung jenseits der Komfortzone. Die Welt braucht uns noch.