Die Angst ist im ältesten Teil unseres Gehirns verankert. Einem Relikt aus der Zeit der Reptilien. Und Reptilien sind nicht unbedingt die Hellsten. Wenn Sie einen Alligator fragen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, aus einer Schale mit hundert roten und zehn weißen Kugeln dreimal hintereinander Rot zu ziehen – vergessen Sie’s!
Besonders bei Gefahr ist das primitive Reptilienhirn darauf programmiert, intuitiv zu handeln und nicht den Taschenrechner herauszuholen, um mal schnell die Überlebenschancen sauber durchzurechnen. Das ist der Grund, weshalb auch wir, trotz einer üppig ausgestatteten Großhirnrinde, unserer Angst so ausgeliefert sind. Wenn das ängstliche Alligatorenhirn hochfährt, hat der vernünftige Neokortex nicht mal mehr ein Vetorecht. Besonders gut zeigt sich dies bei den vielen Lebensmittelskandalen, die alle paar Monate die Schlagzeilen beherrschen. Sobald auf einem rumänischen Bauernhof Pferde entdeckt werden, die als Kühe verkleidet in eine polnische Metzgerei transportiert werden, um dort zu Schweinefleisch-Lasagne verarbeitet zu werden, dreht das gesamte Land komplett durch. Sogar dann, wenn sich das Ganze später als Ente entpuppt.
Aber wenn es um Ernährungsrisiken geht, ist uns Deutschen die Angst näher als das Hirn. Ob Dioxin in Eiern, Pestizide in Pflanzenschutzmitteln oder, noch schlimmer: Gene in Äpfeln – ständig entdeckt irgendwer irgendwas und das Angst-Marketing läuft präziser an als die Braunschweiger Atomuhr.
Das Problem: Die wahren Gefahren sind oft nicht die, die wir fürchten. Wenn es um eine realistische Risikoeinschätzung geht, tut sich das Reptil in uns äußerst schwer. So fürchten wir uns vor Haiangriffen, obwohl die Wahrscheinlichkeit, beim Schwimmen von einem Hai attackiert zu werden, bei mickrigen 1 zu30 Millionen liegt. Und wenn Sie Ihren Urlaub am Bodensee verbringen, sogar noch niedriger.
Chemische Zusatzstoffe in der Nahrung ängstigen uns sehr. Paradoxerweise hat uns aber gerade die Abkehr von der naturnahen Lebensweise ein angenehmes Leben ermöglicht. Vor etwa 10 000 Jahren haben wir begonnen, Nutzpflanzen und Nutztiere zu züchten, die es vorher nicht gab. Nahezu alles, was wir essen, ist keine Naturgabe, sondern wurde durch mühevolle künstliche Züchtung geschaffen. Als die Milch noch naturbelassen, also nicht chemisch pasteurisiert war, sind die Menschen scharenweise an Infektionen gestorben. Doch wenn die EU heute Rohmilchkäse verbietet, beschweren sich die Hardliner: „Wir wollen uns auf ganz natürliche Weise das EHEC-Bakterium holen!“
Die verstörende Wahrheit ist: Die fiesesten Gifte sind 100 Prozent bio. Nüsse enthalten Aflatoxine, die zu den stärksten Karzinogenen gehören, die wir kennen, Champignons enthalten krebserregende Hydrazine. In Broccoli findet man Goitrin und Glucosinolate, die die Schilddrüse schädigen. Doch die Himbeere toppt alles: Mit ihren verschiedenen Aldehyden und Ketonen, Kohlenwasserstoffen und dem leberschädigenden Cumarin ist sie praktisch das Tschernobyl unter den Nahrungsmitteln.
Würde Nestlé eine Himbeere künstlich herstellen, die dieselbe Zusammensetzung enthielte wie eine natürliche, würden sich vermutlich die Mitglieder von Foodwatch demonstrativ bei Rewe an die Obst-Theke ketten.
Übrigens: Die letzte wirklich echte Lebensmittelkatastrophe der Nachkriegszeit mit 53 Toten und 855 schwer Erkrankten kam nicht von einem der ungeliebten globalen Lebensmittelhersteller, sondern von den Salatsprossen eines Bio-Hofes. Aber davon will unser Reptiliengehirn nichts wissen.
Über den Autor: Vince Ebert ist Physiker und Kabarettist und mit seinem Bühnenprogramm „Freiheit ist alles“ deutschlandweit auf Tournee. Er ist auch Kolumnist der absatzwirtschaft. Tourdaten unter www.vince-ebert.de.