Von Nils Jacobsen
Der Wind hat gedreht. Dass der Tag X kommen würde, an dem die längste Börsenparty seit den Roaring Twenties zu Ende geht, ist keine Überraschung – das Ausmaß des Katers ist es. Seit einem Quartal herrscht an der Wall Street ein Ausverkauf, der zwar noch nicht in der Stimmung, wohl aber in der Schärfe der Kursverluste an den großen Crash der Finanzkrise 2008/09 erinnert.
Drei Quartale lang war zuvor alles wie immer: Technologie- und Internetaktien waren die Stars der Wall Street. Die Aktien stiegen, wurden kurz durchgeschüttelt und setzten ihre rasante Rally weiter fort. Im vierten Quartal jedoch schien es, als hätte jemand den Stecker gezogen.
Die immer schärfere Rhetorik im Handelsstreit zwischen den USA und China, die weiter restriktive Notenbankpolitik und eine sich abkühlende Konjunktur ließen die Kurse erdrutschartig abstürzen. Hausgemachte Probleme kamen bei einstigen Vorzeigekonzernen wie Apple und Facebook hinzu.
Verlierer des Jahres
• Apple: – 7 Prozent
Es sah nach einem nicht verspielbaren Vorsprung aus – einer weltbesten Nationalmannschaft gleich, die bis zur 70. Minute souverän mit 4:0 führt. Das war Apples Status quo Anfang Oktober, als der Techpionier nach einem Kursplus von 39 Prozent seit Jahresbeginn bei 233,47 Dollar auf einem Allzeithoch notierte und mit 1,12 Billionen Dollar bewertet wurde – höher als jedes Unternehmen in der Wirtschaftsgeschichte zuvor.
Doch auf den spektakulären Aufstieg folgt oft genug der tiefe Fall. Elf Wochen später notiert der iKonzern nur noch bei 157 Dollar, zu Handelsbeginn gestern gar bei weniger als 147 Dollar. Das komfortable Kursplus von 39 Prozent hat sich binnen elf Wochen tatsächlich in ein Minus von 7 Prozent seit Jahresbeginn verwandelt. Plötzlich ist Tim Cook zum Minusmann der Wall Street geworden. Oder um in der Fußballsymbolik zu bleiben: nach 90 Minuten geht Apple doch noch mit einer 4:5-Niederlage aus dem Börsenjahr 2018.
Der Grund für den an sich unfassbaren Kurssturz, der unglaubliche 400 Milliarden Dollar an Börsenwert ausradierte, ist schnell gefunden: Es ist das iPhone, durch das Apple 2011 zum wertvollsten Konzern der Welt aufgestiegen war und sich, von kleinen Unterbrechungen abgesehen, bis November an der Spitze der Börsenwelt halten konnte.
Nun jedoch wirken die Kräfte in die entgegengesetzte Richtung: Mit den neuen Hochpreis-Modellen iPhone XS und iPhone XS Max, vor allem aber dem etwas günstigeren iPhone XR leistete sich Apple jedoch einen spektakulären Flop. Führende Banken und Brokerhäuser äußern sich immer besorgter über die Verkaufsaussichten und stuften Apple fast im Tagesrhythmus immer weiter ab. Analysten der UBS haben gar festgestellt, dass sich das Kaufinteresse an einem iPhone auf einem 5-Jahrestief befindet.
Quittung des Börsenabsturzes: Der lange Zeit wertvollste Konzern, der von Anfang August bis Anfang Oktober mit mehr als einer Billion Dollar bewertet wurde, war zeitweise nur noch die Nummer drei der Wall Street und am Heiligabend keine 700 Milliarden Dollar mehr wert.
• Facebook: – 24 Prozent
Statistisch und vor allem gemessen an den Schlagzeilen dramatischer verlief 2018 für den ultimativen Verlierer unter den hoch kapitalisierten FAANG-Unternehmen. Facebook erlebte sein absolutes annus horribilis, für das die Vergleichsmaßstäbe fehlen.
14 Jahre seines Unternehmenrlebens ging Mark Zuckerbergs Maxime „Move fast and break things“ auf – dann wurden Mitte März die Enthüllungen um Cambridge Analytica bekannt, die alles veränderten und einen US-Staatsanwalt wegen Datenmissbrauchs Anklage erheben ließen.
Bereits zuvor stand das Social Network für seine Rolle bei der US-Wahl in der Kritik, doch das Ausmaß des Datenskandals um Cambridge Analytica, war eine andere Dimension. Ende des Jahres wirkt das Datenleck, durch das die Datenanalysefirma Zugriff auf 87 Millionen Facebook-Profile bekommen hat, nunmehr lediglich als die Spitze des Eisbergs. Woche für Woche häuften sich die Horrormeldungen über Facebooks rücksichtslosen Umgang mit Nutzerdaten.
Kurz vor Weihnachten enthüllte die New York Times, dass der noch immer drittwertvollste Internetkonzern der Welt sensible Nutzerdaten an Tech- und Internetgiganten wie Netflix, Spotify und Microsoft und der Anklage weitergegeben hat. Gemessen an den schockierenden Enthüllungen, die den COO arg ins Bedrängnis brachten, erscheint es fast, als wäre der Mutterkonzern des weltgrößten Social Networks mit dem Minus von nur 24 Prozent noch gut bedient.
• Alibaba und Tencent: –20 bis –25 Prozent
Ebenfalls ein Jahr zum Vergessen erlebten die Vorjahresgewinner – die hoch gewetteten China-Stars Alibaba und Tencent, die zusammen mit Baidu die sogenannten BAT-Aktien bilden. Vor allem die Eskalation des Handelsstreits zwischen der Trump-Administration und China, in dem der US-Präsident Importzölle auf Waren aus dem Reich der Mitte in Aussicht stellte, verunsicherte Besitzer von China-Aktien.
Dabei reißt das explosive Digitalwachstum aus Fernost bislang nicht ab. Chinas E-Commerce Champion Alibaba kann wie der wertvollste Konzern Asiens, Tencent, weiter zweistelliges Umsatzwachstum vorweisen. Beide Aktien müssen jedoch nach den exorbitanten Zugewinnen des Vorjahres kräftig Federn lassen: Alibaba liegt kurz vor Jahresende mit 20 Prozent hinten, während das Minus von Tencent gar 25 Prozent beträgt.
Tencent gelang zudem trotz der deutlich erschwerten Bedingungen an den Kapitalmärkten der größte Börsengang eines Internet-Unternehmens seit Jahren: Vor zwei Wochen platzierte Chinas Internet-Riese seine Streamingsparte Tencent Music Entertainment (TME) erfolgreich an der Wall Street, die aktuell zwar leicht unter dem Ausgabekurs notiert, aber bereits wertvoller als Streaming-Pionier Spotify ist.
Gewinner des Jahres
• Microsoft: + 18 Prozent
Es klingt wie ein Szenario aus den frühen 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Microsoft ist wieder wertvoller als Apple. Was lange Zeit vollkommen undenkbar schien – Apple war zu seinen Spitzenzeiten 2012 und 2014 an der Wall Street mehr als doppelt so viel wert wie der Erzrivale aus Seattle – wurde Ende November Realität – und hat bis heute Bestand.
Möglich wird die Zeitenwende an der Wall Street durch die Stärke der Microsoft-Aktie, die seit Jahresbeginn um 18 Prozent zugelegt hat, während Apple sein zeitweises Plus von 39 Prozent in den letzten drei Monaten komplett verspielt hat.
Im fünften Jahr seiner Amtszeit als CEO gelang Satya Nadella damit die meistbeachtete Comebackstory des Jahres. Nadella vermochte Microsofts Abhängigkeit vom Office-Geschäft, das er tatsächlich geschickt zum Abo-Modell umbaute, zu lösen und die Stärke der zweistellig wachsenden Cloudsparte um Azure herauszustellen.
• Amazon: + 26 Prozent
Lange Zeit sah es so aus, als könnte tatsächlich Jeff Bezos die Wirtschaftsstory des Jahres schreiben. Nach einem sensationellen Kursanstieg von in der Spitze 74 Prozent knackte Amazon Anfang September nur einen Monat nach Apple als zweites US-Unternehmen überhaupt die magische Bewertungsmarke von einer Billion US-Dollar.
Das war bei Kursen von 2050 Dollar. Vier Monate später leuchteten zu Heiligabend an der Kurstafel der Technologiebörse Nasdaq nur noch Notierungen von rund 1300 Dollar auf – Amazon hatte im letzten Drittel des Jahres einen Börsenwert von fast 350 Milliarden Dollar ausradiert, der das Jahresplus auf 27 Prozent zusammenschrumpfen ließ.
Dabei war fundamental nichts passiert: Bei Vorlage des jüngsten Zahlenwerks konnte Konzernchef Bezos einen Rekordgewinn ausweisen, leistete sich lediglich den Luxus eines konservativeren Ausblicks auf das Weihnachtsquartals, das tatsächlich aber erfreulich ausgefallen sein dürfte, wie die heute vermeldeten Rekordabsätze nahelegen.
• Netflix: + 32 Prozent
Ebenfalls mit einer gefühlten Niederlage geht der Gewinner der FAANG-Aktien aus dem Jahr. Zur Jahresmitte nämlich hatte keine andere Internetaktie Anleger so elektrisiert wie Streaming-Pionier Netflix, der sich binnen der ersten sechs Monate mal eben verdoppelt hatte.
Ende Mai gelang dem Streaming-Video-Pionier sogar die historische Wachablösung an der Wall Street. Binnen gerade einmal eines Jahrzehnts hat Netflix an der Wall Street das alte Hollywood überflügelt – inklusive Disney. Das von Walt Disney 1923 gegründete Filmimperium war über Jahrzehnte der wertvollste Medienkonzern der Welt, verpasste aber den Einstieg ins Streaming-Zeitalter.
Die Folge: Für knapp zwei Monate überflügelte Netflix Walt Disney zwischen Mai und Juli als wertvollsten Medienkonzern der Welt – dann schlug das Imperium zurück, weil CEO Reed Hastings bei Bilanzvorlage nicht mehr die hochgesteckten Erwartungen der Wall Street erfüllen konnte und Netflix in den brutalen Abwärtssog der FAANG-Aktien immer weiter in die Tiefe gerissen wurde.
Von Höchstkursen bei 418 Dollar sind Anteilsscheine von Netflix bis Jahresende auf 253 Dollar abgestürzt; Aktionären bleibt damit gegenüber Jahresbeginn das respektable Kursplus von 32 Prozent, das jedoch wie unbefriedigendes Serienende wirkt. Ob die Netflix-Story 2019 eine glückliche Fortsetzung findet, hängt nicht zuletzt von der größeren Konkurrenz ab, die sich in Form von Disney und Apple mit neuen Streaming-Angeboten in Stellung bringen will.
Square und Twilio Internetaktien des Jahres
In der zweiten Reihe der Internetaktien (Börsenwert weniger als 100 Milliarden Dollar) konnten Anleger unterdessen noch beachtlichere Gewinne einfahren, wenn sie Stockpicking betrieben hätten. Nicht mit Twitter, das nach gelungenem Turnaround immerhin um 19 Prozent zulegte, sondern mit dem zweiten von Jack Dorsey geführten Internet-Unternehmen wären 2018 satte Gewinne drin gewesen: der mobile Bezahldienstleister Square legte um 59 Prozent zu.
Die spektakulärsten Kursgewinne 2018 verzeichnete unterdessen ein Internet-Unternehmen, das zu Jahresbeginn wohl kaum einer auf einer der Rechnung gehabt hatte. Der App-Dienstleister Twilio, der Text- und Telefonie-Anwendungen für Messaging- und Internet-Anbieter entwickelt und erst vor zweieineinhalb Jahren an der Wall Street debütiert war, legte in den vergangenen zwölf Monaten um sage und schreibe 261 Prozent zu.