Für den Alibaba-Europa-Chef Terry von Bibra gehört der E-Commerce im heutigen Sinne der Vergangenheit an. Bei dem chinesischen Internetriesen stehen in Zukunft die Bedürfnisse des Kunden noch viel stärker im Mittelpunkt des Geschehens. Das unterstreicht die Philosophie von Alibaba-Gründer Jack Ma, der die Prioritäten klar definiert: An erster Stelle die Kunden, dann die Mitarbeiter, dann die Stakeholder.
Daraus ergäbe sich reichlich Diskussionsstoff. Doch Tatsache ist, dass der Kunde mit seinen Bedürfnissen der zentrale Ausgangspunkt ist, aus dem ein You-Commerce entwickelt wurde. Erreicht wird dies durch eine klare Haltung sowie alle erdenklichen Technologien, Prozesse und Geschäftsmodelle und die Abschaffung der Grenzen zwischen on- und offline.
Die „neue Nähe“ zum Kunden
Je digitaler unsere Welt wird, desto entscheidender wird es für Marken, die direkte Schnittstelle zum Kunden emotional wie funktional zu besetzen. Hier ist Alibaba innovativ und verknüpft online und offline mit maximalem Kundennutzen: Durch Virtual Reality oder RFID bekommen Alibaba-Kunden über ein „Cloud-Shelf“ tiefer gehende Produktinformationen. Beim Besuch der Damentoilette in chinesischen Shoppingmalls zeigt der „Magic Mirror“, wie gut der Kundin die neuesten Kosmetik-Produkte in den aktuellsten Farben zu Gesichte stehen. Bestellt wird im integrierten Online-Verkaufsautomat, und natürlich auch gleich nach Hause geliefert.
In den von Alibaba gegründeten Hema-Supermärkten (hat nichts mit Hema aus Holland zu tun) bekommen Kunden ihre Online-Bestellung innerhalb von 30 Minuten geliefert, sofern sie in einem Drei-Kilometer-Radius wohnen. Und auch der vor Ort getätigte Einkauf wird auf Wunsch in der gleichen Geschwindigkeit geliefert. Man munkelt, dass die Wohnungen im Umfeld dieser Märkte eine neue Beliebtheit bekommen haben. Selbstredend, dass die Hema Supermärkte keine Kassen mehr haben, denn es gibt ja Alipay.
Auto-Neukauf ohne Verkäufer
Auch gelernte und tief verankerte Gewohnheitsmuster wirft Alibaba über den Haufen. Der Autokauf kann zukünftig vollkommen anders funktionieren: Das Wunschauto wird über eine App konfiguriert und die Probefahrt wird ebenfalls digital vorbereitet. In der chinesischen Stadt Guangzhou ist die „Car vending Machine“ bereits Realität. Hierzu ist Alibaba eine Kooperation mit Ford eingegangen. Der Schritt zum Autokauf ohne Verkäuferkontakt ist sehr, sehr nahe. Für ältere Käufergruppen in westlichen Ländern erscheint das unheimlich, für junge Generationen, die im Internet zu Hause sind, ist es eine Offenbarung.
In China besteht ein Großteil der Nahversorger aus kleinen, familiengeführten Geschäften, in denen Artikel des täglichen Bedarfs angeboten werden. Die Inhaber und Mitarbeiter führen noch nahezu jede Tätigkeit manuell und den Einkaufsprozess nach Gefühl und Einschätzung aus. Alibaba versteht diese Geschäfte nicht nur als Umsatzplattform, sondern vor allem als sozialen Treffpunkt. Statt ihnen Umsatz zu nehmen und sie platt zu machen, unterstützt Alibaba sie mit digitalen Lösungen für das Lagermanagement und mit einer Analytik-Plattform, um Kundenanforderungen besser antizipieren zu können. Und dass die Zahlungsvorgänge mit Alipay vonstatten gehen, versteht sich von selbst.
Eine der wertvollsten Marken der Welt
Der Grundstein des Erfolges von Alibaba liegt nicht in der besten Technologie, im Fokus auf bestimmte Kunden oder bestimmte Kanäle. Was Alibaba zu einer der wertvollsten Marken der Welt macht, ist die Haltung hinter allem Tun. Man wird nicht müde, die Kunden und Bedürfnisse zu beobachten und neue Angebote zu entwickeln – für die digitale und die analoge Welt.
Was weniger bekannt ist: Als B2B-Einkaufsplattform ist Alibaba weltweit führend. 10,2 Milliarden Euro wurden hier 2018 umgesetzt. Die größte Herausforderung: Viele europäische Technologieunternehmen vermuten eine hohe Anzahl von Produktfälschungen. Wir sind gespannt, wie Jack Ma darauf mittelfristig reagieren wird. Denn von Amazon, das erst 2016 in den B2B-Markt eingestiegen ist, wird er sich nicht vom Thron stoßen lassen wollen.